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Verfahren zur Darstellung von Chlorcyan aus Chlorhydrat und Cyanalkalien
Es sind verschiedene Verfahren zur Darstellung von Chlorcyan in der Fachliteratur
bekannt, deren praktischer Wert jedoch durch verschiedene erhebliche Mängel sehr
beschränkt ist, so daß für den Großbetrieb ein praktisches, einfaches, billiges
und wegen der Giftigkeit der zur Anwendung gelangenden Stoffe möglichst gefahrloses
Verfahren daher noch fehlt.
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Das älteste Chlorcyanverfahren (Berzelius, Jahresb.8, S.89, und 12,
S. 79; Wöhler, A. 73, S. 22o; Cahours und Cloez, A. go, S. 97) aus
Quecksilbercyanid und Chlor kommt wegen des hohen Quecksilberpreises für die Fabrikpraxis
nicht in Betracht.
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Andere Verfahren benutzen zur Darstellung von Chlorcyan freie wäßrige
Blausäure (z. B. Berthollet, A. d. Ch. et d.Phys. (i) 2,S.35; Price and Green, Centralblatt
ig2o, Band IV, S. 14; Maugin & Simon, Centralblatt ig-.i, Band I, S. 785). Bei
diesen Verfahren entstehen Blausäureverluste, außerdem ist das Chlörcyandestillat
stark blausäurehaltig, so daß diese Verfahren unwirtschaftlich und wegen des Arbeitens
mit freier Blausäure für den Betrieb mit vielen Gefahren und Komplikationen verbunden
sind.
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Die weiteren Verfahren, bei denen versucht wird, das Arbeiten -mit
freier Blausäure dadurch zu umgehen, daß man in eine wäßrige Lösung von Cyansalzen
Chlor einführt, haben fehlgeschlagen, weil hierbei vorwiegend unerwünschte Nebenprodukte
entstehen. Vorschläge, durchZusatzvonZinksulfat (s. Maugin und S i m o n, Compt.
Rend. de 1'Academie des Sciences (igig), S.383 bis 386) die Nebenprodukte bei dieser
Art der Umsetzung zurückzudämmen; haben ebenfalls zu keinem praktisch brauchbaren
Erfolg geführt. Außerdem wirkt die Gegenwart von Zink bei den direkten Umsetzungen
von Chlorcyan in Lösungen störend.
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Um die zersetzende Wirkung eines Überschusses von Cyansalzlösungen
auf das gebildete Chlorcyan auszuschalten, versuchen HantzschundMai, Ber. Bd. 28,
S.247i, durch allmähliches Eintragen von Cyankaliumlösung in Chlorwasser unter gleichzeitiger
Kühlung Chlorcyan herzustellen.
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Nach diesem Verfahren wird Chlor bei etwa o ° nur so lange in Wasser
eingeleitet, als sich das Gas darin glatt löst. Da man mit gesättigtem Chlorwasser
nur geringe Mengen von Cyan binden und deshalb nur äußerst verdünnte Chlorcyanlösungen
erhalten kann, sättigen H a n t z s c h und Mai die primäre Chlorcyanlösung für
eine zweite Umsetzung mit Cyansalzen nochmals mit Chlor bis'zur gerade beginnenden
Abscheidung von Chlorhydrat nach. Hierbei sind Verluste an dem leicht flüchtigen
Chlorcyan unvermeidlich. Die dabei schließlich erreichte Chlorcyankonzentration
ist
immer noch sehr gering, sie beträgt nur 15 bis 2o g Chlorcyan
in i bis i1/21 Flüssigkeit. Diese Chlorcyanlösung ist für direkte chemische Umsetzungen
zu verdünnt, man muß daraus das Chlorcvan entweder durch Destillation oder durch
Extraktion mit einem indifferenten Lösungsmittel isolieren und konzentrieren, was
für die technische Ausführung des Verfahrens kompliziert und wenig wirtschaftlich
ist.
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Nach einer veröffentlichten Privatmitteilung von Mai (Houben-Weyl,
2. Auflage (1g24), Bd. 4., S. 7) soll Chlorcyan in der Weise tiergestellt werden,
daß zunächst Chlor in schnellem Strom unter Eiskühlung in Wasser eingeleitet wird,
dann, nach Beginn der Ausscheidung von Chlorhydrat, unter Kühlung durch Kältemischung
bei langsamerem Chlorstrom und Rühren mit einem sehr kräftigen Rührer Chlor bis
zur Gewichtskonstanz eingeleitet und schließlich in der so erhaltenen Reaktionsmischung
die Umsetzung mit Cyansalzen vorgenommen wird.
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Versucht man im Großbetriebe nach diesen Angaben zu arbeiten, so ergibt
sich ein völliger Mißerfolg, da die Reaktionsmischung schon bei einem Gehalt des
Wassers von etwa ¢ bis 80J, Chlor zu einer festen Masse erstarrt, die durch Rühren
nicht mehr bewegt werden kann. Eine Umsetzung des vorhandenen Chlorhydrates mit
Cyaniden ist damit unmöglich gemacht.
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Es wurde nun gefunden, daß sich dieses Verfahren in der Vereise zu
einem auch im Großbetriebe hervorragend arbeitenden Verfahren ausbilden läßt, daß
man Chlor in wäßrige Lösungen indifferenter anorganischer Salze in Gegenwart oder
Abwesenheit indifferenter organischer Lösungsmittel bei Temperaturen unterhalb 8°
in solchen Mengen einleitet, daß zumindest der größte Teil des Chlors als Chlorhydrat
abgeschieden wird, worauf ebenfalls bei niedriger Temperatur, vorteilhaft bei etwa
o°, eine wäßrige Lösung eines Alkalieyanides, wie Cyannatrium, zugesetzt wird. Kennzeichnend
für dieses Verfahren und neu gegenüber dem obenerwähnten bekannten Verfahren ist
die Verwendung wäßriger Lösungen indifferenter anorganischer Salze an Stelle von
Wasser. Erreicht wird hierdurch, daß ein Festwerden der Reaktionsmischung selbst
bei einem Gehalt derselben an Chlor von etwa 15"/, oder mehr vermieden wird. Das
Rühren der Mischung sowie die Umsetzung mit Alkalicyaniden bereitet keinerlei Schwierigkeiten,
und man erhält eine Chlorcyanlösung von einer Konzentration, wie sie bisher in technisch
brauchbarer Weise nicht annähernd erzielt werden konnte.
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Bei dem neuen Verfahren können auch indifferente organische Lösungsmittel,
wie z. B. Tetrachlorkohlenstoff, mit angewandt werden, indem das Chlorhydrat darin
suspendiert wird. In dem Lösungsmittel wird dann während der Umsetzung mit Cyansalzen
das gebildete Chlorcyan aufgenommen und angereichert. Diese Lösungen sind für mancherlei
Zwecke direkt brauchbar, es kann unter anderem Chlorcyan darin z. B. zu Cyanurchlorid
polymerisiert werden.
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In diesem neuen Verfahren sind im Gegensatz zu den bisher bekannten
Verfahren alle technischen Vorteile, was Einfachheit, Billigkeit und Gefahrlosigkeit
_ beim Arbeiten mit giftigen Stoffen betrifft, vereinigt.
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Das Auftreten von freier Blausäure wird bei diesem Verfahren vermieden,
weil nur so viel Cyanwasserstoff aus den Cyansalzen freigemacht wird, als unmittelbar
mit vorhandenem Halogen reagieren kann. Man kann nach diesem Verfahren in einem
einzigen Reaktionsapparat bis zum fertigen Chlorcyan arbeiten, das dann gegebenenfalls
in demselben Apparat auch weiter mit organischen Basen umgesetzt werden kann. Die
Isolierung des niedrigsiedenden, ätzenden und giftigen Chlorcyans kann derart vermieden
werden. Hierdurch wird das Verfahren zu einem technisch denkbar einfachen, billigen
und sicheren Betriebsverfahren, das die bisherigen bekannten Verfahren weit übertrifft.
Beispiel i In einem gut abgedichteten emaillierten Rührwerkskessel mit gut wirkender
Kühl- und Heizvorrichtung werden s kg Calciumchlorid in ioo 1 Wasser gelöst. Dann
leitet man unter Rühren aus einer Bombe Chlor ein und kühlt gleichzeitig, so daß
die Temperatur allmählich auf etwa o° sinkt. Die Salzlösung bleibt zunächst klar;
die Abscheidung von Chlorhydrat beginnt, nachdem etwa il/, kg Chlor eingeleitet
worden sind und die Lösung mit Chlor gesättigt ist. Insgesamt werden etwa 1o kg
Chlor der Bombe entnommen. Dann läßt man bei o bis 2 ° sd lange eine 2o °; oige
Cyannatriumlösung zufließen, bis in einer Probe der Salzlösung kein Chlor mehr nachzuweisen
ist, der Verbrauch beträgt etwa 6l;2 kg Cyannatrium (ioo°/o). Das Chlorcyan kann
durch Destillation rein isoliert werden; man kann es auch mit einem geeigneten organischen
Lösungsmittel extrahieren oder die wäßrige Chlorcyanlösung direkt mit Aminen umsetzen.
Die Ausbeute an Chlorcyan beträgt go °/o der Theorie.
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Wird im obigen Beispiel 'das Chlorcalcium durch Magnesiumchlorid oder
ein Gemisch beider Salze ersetzt, so verläuft die Reaktion in der gleichen Weise.
Man verwendet so viel Salz, daß die Reaktionslösung bei der Reaktionstemperatur
nicht gefriert, vornehmlich Mengen von i bis 5 kg auf ioo 1 Wasser. Die Grenzen
der einzuhaltenden Temperatur werden etwa durch den Gefrierpunkt der angewandten
Salzlösung
und den Abscheidungspunkt des Chlorhvdrats bezeichnet. Chlor kann man so lange einleiten,
als das Reaktionsgemisch sich durch den Rührer noch gut bewegen läßt; hinsichtlich
der Cyanidlösung ist man naturgemäß an keine bestimmte Konzentration gebunden.
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Nach den Angaben von G o o dwin, Ber. d. D. chem. Ges. 15, S. 3039
ff ., besonders S. 3045, war es nicht zu erwarten, daß in der Chlorcalciumlösung
sich festes Chlorhydrat abscheiden und so eine Erhöhung der Chlorkonzentration über
den Chlorgehalt von gesättigtem Chlorwasser hinaus ermöglicht würde. Beispiel 2
Der in Beispiel r beschriebene Rührwerkskessel wird mit 75 1 Tetrachlorkohlenstoff
und einer Lösung von 1,5 kg Kochsalz in 25 1 Wasser beschickt. Dann wird Chlor eingeleitet
und die Temperatur durch Kühlung unter 8° erniedrigt. Zunächst löst sich das Chlor
auf; bei weiterer Sättigung scheiden sich Chlorhydratkristalle ab, die sich durch
Rühren glatt verteilen lassen. Nachdem etwa 2o kg Chlor eingeleitet sind, kühlt
man auf o bis g,' und läßt so lange 30 °/oigeCyannatriumlösung zufließen,
bis alles Chlor umgesetzt ist. Verbraucht werden hierzu etwa 1q. kg Cyannatrium
(zoo°/o). Der Tetrachlorkohlenstoff wird abgetrennt; er enthält im Liter z50 bis
Zoo g Chlorcyan. Der Rest des Chlorcyans bleibt im Wasser gelöst, das bei einem
neuen Einsatz wieder eingesetzt wird.
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Man kann natürlich auch das gesamte Reaktionsgemisch zu chemischen
Umsetzungen benutzen oder das Chlorcyan daraus durch Destillation isolieren. Daß
die Umsetzung von Chlorhydrat mit Cyansalzen nach dem obigen Verfahren so glatt
verläuft, ist vollkommen neu und war nicht vorauszusehen, weil die bisher bekannten
obenerwähnten Verfahren sorgsam vermeiden, mit Chlorhydrat, zumindest in so hohen
Konzentrationen, bei diesen Umsetzungen zu arbeiten. Es war auch nicht vorauszusehen,
daß ein Zusatz von Kochsalz oder von anderen wasserlöslichen Salzen von praktischem
Vorteil sein kann, weil nach den bisherigen Angaben aus der Fachliteratur die Gegenwart
von Salzen, wie Chlorkalium usw., die Bildung und Abscheidung von Chlorhydrat negativ
beeinfiußt (s. Goodwin, Ber. Bd. 15, S. 3039 bis 305z). Das nach diesem Verfahren
dargestellte, sehr reaktionsfähige Chlorcyan soll für weitere chemische Umsetzungen
mit organischen Basen und anderen Körpern praktische Verwendung finden. Dieses bequeme
und billige neue Chlorcyanverfahren ermöglicht z. B., das in letzter Zeit billig
gewordene Cyannatrium für viele chemische Synthesen verwendbar zu machen.