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Die Erfindung betrifft ein Präparat zur Behandlung pathologischer Reizzustände
der Harnblase bei der Frau.
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Unter dem Begriff Harninkontinenz versteht man einen objektiv nachweisbaren
unwillkürlichen Urinverlust. Dieser Harnverlust kann zu erheblicher sozialer,
hygienischer und psychologischer Beeinträchtigung führen. Hauptformen der
Harninkontinenz sind dabei die Streßinkontinenz und die Dranginkontinenz.
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Die Streßinkontinenz meint einen unwillkürlichen Urinverlust bei Erhöhung des
intraabdominellen Druckes. Sie ist in den meisten Fällen bedingt durch eine
Beckenbodenschwäche, z. B. nach mehreren, schweren Geburten, sie kann
aber auch Folge einer Innervationsstörung des Beckenbodens bei
neuromotorischer Läsion, einer angeborenen, zu kurzen Urethra, einer
Epispadie oder selten Folge einer operativen Verletzung des äußeren
Sphincters sein.
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Die Dranginkontinenz beschreibt den unwillkürlichen Urinverlust bei starkem
Harndrang. Die Ätiologie der Dranginkontinenz der Frau ist unklar. Ein
Ungleichgewicht zwischen afferenten und hemmenden Impulsen muß als
Ursache der Dranginkontinenz angesehen werden. Klinisch bestehen
gesteigerter imperativer Harndrang, Pollakisurie und Nykturie sowie
prämiktionelle Harnabgänge im Zusammenhang mit Harndrang. Diese Form der
hyperaktiven Blasenentleerungsstörung basiert auf einer gesteigerten
Acetylcholinsekretion aus parasympathischen Neuronen. Acetylcholin verändert
die Membranleiffähigkeit glatter Muskelzellen für Ca2+ und initiiert dadurch
Blasenmuskelkontraktionen.
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Durch unkontrollierten spontanen Urinabgang, vermehrtes Wasserlassen sowie
schmerzhafte Kontraktionen im Bereich der Harnblase erleiden die betroffenen
Personen erhebliche körperliche und psychische Störungen des Wohlbefindens,
so daß der Bedarf einer medizinischen Therapie der oben genannten
Funktionsstörungen besteht.
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Klinisch wird das Erscheinungsbild der Streßinkontinenz durch Verabreichung
von Östrogenen therapiert.
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In der Therapie der Dranginkontinenz haben sich Anticholinergika bewährt,
deren Funktion in der Inhibition cholinerger Rezeptoren des Detrusor vesicae
liegt. Die Verwendung von Anticholinergika weist starke zentrale Effekte wie
Mundtrockenheit, Schwindel, Verwirrtheitszustände sowie
Akkomodationsstörungen auf. Bei spasmolytisch wirksamen Dosen können
jedoch Nebenwirkungen an anderen Organen auftreten.
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Es ist daher wünschenswert, ein Präparat bereitzustellen, das die
obengenannten Nebenwirkungen bei der Behandlung der Dranginkontinenz
reduziert.
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Zur Lösung dieser Aufgabe wird ein Präparat der eingangs genannten Art
vorgeschlagen, das 17-β-Estradiol aufweist.
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Östrogene werden normalerweise zur Behandlung von Beschwerden, die
während des Klimakteriums aufgrund der abnehmenden Östrogenproduktion
auftreten, eingesetzt. Die Applikation von Östrogenen bei postmenopausalen
Frauen führt zu einer deutlichen Verbesserungen der Miktionsproblematik,
welche durch rezidivierende Infekte, Streß- und Dranginkontinenz
gekennzeichnet ist. Östrogene fördern über eine Einlagerung von Glykogen in
die Vaginalepithel eine Besiedlung der Vagina mit Lactobacillen, und somit
letztendlich die Wiederherstellung einer normalen Scheidenflora.
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Darüber hinaus bewirkt die lokale Östrogenisierung über Östrogenrezeptoren im
Bereich der Urethra und des Blasenhalses eine Proliferationssteigerung des
Urothels, eine Erhöhung des Kollagengehaltes und damit der Elastizität,
verbesserte Durchblutung des periurethralen Venenplexus sowie eine α-
adrenerge Stimulation der glatten Muskulatur, was in einer Verbesserung des
Verschlußmechanismus resultiert. Östrogene haben daher einen positiven
Einfluß auf Sensibilität und Motorik der urethrovesikalen Einheit, so daß sie zur
Behandlung der urogenitalen Altersatrophie (UGA) herangezogen werden. Des
weiteren werden verschiedene direkte Effekte von Östrogenen an der
Blasenmuskulatur vermutet.
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Überraschend wurde in Experimenten eine 50%ige Hemmung der
Acetylcholinkontraktion durch 17-β-Estradiol festgestellt.
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Entsprechend betrifft die Erfindung die Verwendung von 17-β-Estradiol in
Präparaten zur Behandlung von Pollakisurie, imperativem Harndrang und
Dranginkontinenz.
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Ferner betrifft die Erfindung die Verwendung von 17-β-Estradiol in Präparaten
zusammen mit in der Pharmazie üblichen Formulierungs- und Zusatzstoffen
enthalten.
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In solchen Präparaten kann 17-β-Estradiol ferner mit anderen Wirkstoffen
kombiniert sein, insbesondere Spasmolytika (Phosphordiesterase-Inhibitoren)
und Anticholinergika. Als Anticholinergika kommen insbesondere Folterodin,
Oxybutynin, Trospiumchlorid und dergleichen in Frage. In Experimenten ergab
sich unerwartet eine mehr als additive Wirkung von 17-β-Estradiol in
Kombination mit Anticholinergika. Bei derartigen Wirkstoffkombinationen sollte
das Verhältnis von 17-β-Estradiol zum Spasmolytikum oder Anticholinergikum
im Verhältnis von 30 : 70 bis 70 : 30 Molprozent liegen.
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Das pharmazeutische Mittel bewirkt zudem einen unterstützenden Effekt bei der
Hormon-Replace-Therapie (HRT) in der perimenopausalen Phase.
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Zweckmäßig sind übliche Verabreichungsformen, wie z. B. Pulver, Tabletten,
Kapseln, Zäpfchen oder wäßrige bzw. ölige Dispersionen, vorgesehen sowie
transdermale Applikationsformen.
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Die nachfolgenden Beispiele dienen der näheren Erläuterung der Erfindung:
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In den folgenden Beispielen wurde die Wirkung von 17-β-Estradiol auf die
cholinerg evozierte Kontraktion des Detrusors mit an sich bekannten und
anerkannten, validierten Methoden auf zellulärer Ebene und im Gewebeverband
durchgeführt.
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Zur Durchführung der Experimente werden Gewebestreifen im Rahmen
transurethrale Blasentumorresektionen (TURB) bzw. im Rahmen radikal
chirurgischer Eingriffe der Blase gewonnen. Die Gewebestreifen wurden
unmittelbar nach der Resektion in Ringerlösung überführt. Die elektrokaustisch
veränderten Geweberänder wurden manuell rezesiert und die Streifen auf einer
Länge von 10 × 3 × 5 mm geschnitten. In mit Sauerstoff begaster Ringerlösung
konnten die Streifen bis zu 24 Stunden konserviert werden.
Beispiel 1
Organbadexperiment
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Die erforderliche Kontraktion der Blase wurde durch Acetylcholin im Schuler-
Organbad induziert.
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Fig. 1 zeigt die Dosis-Wirkungsbeziehung der Acetylcholin induzierten
Kontraktion der Blase. Dabei wurde die logarithmische Konzentration von
Acetylcholin gegen die mittlere Kontraktion (ausgedrückt in % der maximalen
Kontraktion) aufgetragen. Die Schwellenkonzentration lag bei 10 nM, die
EC50-Konzentration bei ca. 5 µM, saturierende Effekte wurden in minimolaren
Konzentrationen beobachtet.
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In Fig. 2 ist die Dosis-Wirkungsbeziehung der 17-β-Estradiol induzierten
Hemmung der ACH-Kontraktion dargestellt, wo die logarithmische Konzentration
an 17-β-Estradiol gegen die mittlere Kontraktion (% der Kontrollkontraktion
durch 100 µM ACH) aufgetragen ist. Es konnte eine maximale Hemmung von
ca. 50% durch 17-β-Estradiol in millimolarer Konzentration beobachtet werden.
Die Hemmung konnte nur am weiblichen Detrusor gemessen werden, was auf
einen Rezeptor vermittelten Prozeß deutet, da am männlichen Detrusor keine
Östrogenrezeptoren nachgewiesen werden konnten. Aus diesen Gründen
stellen die im dargestellten Experimente Resultate von Messungen an
weiblichen Harnblasen dar.
Beispiel 2
Patch-clamp-Technik und FURA II-Fluoreszenztechnik
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Hierbei wurde die Inhibition des basalen, d. h. des nicht cholinerg vorstimulierten
Stromes, als die reine Ca2+-antagonistische Wirkung bewertet und die
konzentrationsabhängige Antagonisierung des ACH vorstimulierten Stromes als
die anticholinerge Wirkung bezeichnet.
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Die Strom-Spannungsbeziehung in Fig. 3 zeigt eine Verschiebung des Peak
Ca2+-Stromes um +20 mV. Neben der zusätzlichen Hemmung des
peak-Stromes wird durch die Rechtsverschiebung die Aktivierungsschwelle für
den Ca2+-Strom erhöht. 17-β-Estradiol hemmt sowohl den basalen als auch den
cholinerg stimulierten Ca2+-Strom.
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Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die funktionelle anticholinerge
Wirksamkeit des 17 β-Estradiols am Detrusor vesicae der Frau auf eine
Veränderung der Spannungsabhängigkeit des Ca2+-Kanals in der Harnblase
zurückgeführt wird. Neben einer Verbesserung der Infektabwehr und eine
Optimierung des vesikalen Verschlußmechnismus kommt es zusätzlich zu einer
Abnahme der Dranginkontinenzproblematik durch Hemmung der
Blasenkontraktionen.