-
Technisches Gebiet
-
Die Erfindung betrifft Fahrzeugfunktionen, wie z. B. eine Kollisionswarnfunktion, die auf einer Auswertung einer voraussichtlichen Kollisionserwartungszeit, auch TTC-Zeitdauer genannt (TTC: Time to Collision), und einer Schätzung eines Anhaltewegs des Fahrzeugs basiert. Die Erfindung betrifft weiterhin Verfahren zur Prädiktion des individuellen Anhaltewegs.
-
Technischer Hintergrund
-
Heutige Fahrzeugfunktionen, wie beispielsweise eine Kollisionswarnfunktion, können auf Kollisionsvorwarnzeitschwellen basieren, die parametriert werden müssen. Unterschreitet eine Kollisionserwartungszeit eine vorgegebene Kollisionsvorwarnzeitschwelle, so kann eine Kollisionswarnung ausgegeben werden, auf die der Fahrer des Fahrzeugs reagieren kann. Die Kollisionsvorwarnzeitschwelle kann abhängig von einem geschätzten Anhalteweg des Fahrzeugs oder einer geschätzten Kollisionserwartungszeit bestimmt werden.
-
Für heutige Fahrzeuge gibt es nur unzureichende Möglichkeiten, eine fahrerabhängige Vorhersage des Anhaltewegs bzw. der Kollisionserwartungszeit durchzuführen, um eine Kollisionsvorwarnzeitschwelle, die zum Auslösen einer Kollisionswarnung verwendet wird, anzupassen. Dies führt in der Regel zu einer nicht optimalen Lösung der Nutzbarkeit einer Kollisionswarnfunktion, da für einen Fahrer, der tendenziell schneller reagiert und/oder tendenziell stärker bremst, die Kollisionswarnung zu früh, und für einen abgelenkten Fahrer, der tendenziell langsamer reagiert und/oder tendenziell nicht so stark bremst, die Kollisionswarnung zu spät kommen kann.
-
Offenbarung der Erfindung
-
Erfindungsgemäß sind ein Verfahren zum Betreiben eines Fahrzeugs gemäß Anspruch 1, sowie ein Verfahren zum Trainieren eines Reaktionszeitmodells, ein Verfahren zum Trainieren eines Bremsverzögerungsmodells, und eine entsprechende Vorrichtung gemäß den nebengeordneten Ansprüchen vorgesehen.
-
Weitere Ausgestaltungen sind in den abhängigen Ansprüchen angegeben.
-
Gemäß einem ersten Aspekt ist ein Verfahren zum Betreiben eines Fahrzeugs bzw. zum Bestimmen einer Anhaltegröße eines Fahrzeugs, insbesondere eines Anhaltewegs und/oder einer Anhaltezeit, vorgesehen, mit folgenden Schritten:
- - Bestimmen von mindestens einem Fahrerparameter, mindestens einem Situationsparameter und/oder mindestens einem Fahrzeugparameter,
- - Bereitstellen eines trainierten datenbasierten Anhaltemodells, das trainiert ist, um dem mindestens einen Fahrerparameter, dem mindestens einen Situationsparameter und/oder dem mindestens einen Fahrzeugparameter die Anhaltegröße zuzuordnen;
- - Bestimmen der Anhaltegröße mithilfe des trainierten datenbasierten Anhaltemodells abhängig von dem mindestens einen Fahrerparameter, dem mindestens einen Situationsparameter und/oder dem mindestens einen Fahrzeugparameter;
- - Durchführen einer Fahrzeugfunktion, insbesondere einer Kollisionswarnfunktion abhängig von der Anhaltegröße.
-
Zur Ausführung einer Fahrzeugfunktion, wie z. B. einer Kollisionswarnfunktion, ist eine Kenntnis einer Anhaltegröße, wie z. B. eines Anhaltewegs oder einer Anhaltezeit, erforderlich. Der Anhalteweg eines Fahrzeugs entspricht einem Weg, den das Fahrzeug zwischen einem Zeitpunkt eines auslösenden Ereignisses, wie z. B. einer Wahrnehmbarkeit eines möglicherweise gefährdenden Ereignisses durch den Fahrer, und einem vollständigen Anhalten des Fahrzeugs zurücklegt. Die Anhaltezeit entspricht der Zeitdauer zwischen einem Zeitpunkt eines auslösenden Ereignisses, wie z. B. einer Wahrnehmbarkeit eines möglicherweise gefährdenden Ereignisses durch den Fahrer, und einem vollständigen Anhalten des Fahrzeugs.
-
Die Anhaltegröße bestimmt sich also aus der Reaktionszeit auf das möglicherweise gefährdende Ereignis und die Zeit für den Bremseingriff zum Anhalten des Fahrzeugs. Die Anhaltegröße hängt also erheblich von der Reaktion des Fahrers auf ein sich näherndes, möglicherweise mit dem Fahrzeug kollidierendes Umgebungsobjekt ab. Zudem ist das Bremsverhalten jedes Fahrzeugs und jedes Fahrers unterschiedlich, wodurch die Anhaltegröße ebenfalls beeinflusst wird. So kann entsprechend einer Reaktionszeit das Einsetzen einer Bremsung durch den Fahrer eher zögerlich oder sehr zügig und/oder entsprechend einer Bremsaktuierung die Bremsbetätigung gemächlich oder sehr stark erfolgen, wodurch sich unterschiedliche Verzögerungstrajektorien des Fahrzeugs und damit unterschiedliche Anhaltegrößen (Anhaltewege, Anhaltezeiten etc.) ergeben. Da die Reaktionszeit und die Bremsaktuierung für einen Fahrer nicht konstant sind und zudem fahrerindividuell und situationsabhängig sind, können diese aus Fahrerparametern, Fahrzeugparametern und Situationsparametern abgeleitet werden.
-
Dazu wird vorgeschlagen, die Anhaltegröße mithilfe eines datenbasierten Anhaltemodells zu ermitteln. Durch die Berücksichtigung von Fahrerparametern, Fahrzeugparametern und Situationsparametern kann auf situationsabhängige Fahrer- und Fahrzeugzustände, wie Müdigkeit, Bremsverhalten des Fahrzeugs, Reifenhaftung und dergleichen, besser eingegangen werden, wenn die Anhaltegröße situationsabhängig ermittelt wird.
-
Gemäß einer Ausführungsform kann das Anhaltemodell einem hybriden Modell entsprechen, das ein datenbasiertes Reaktionszeitmodell und ein datenbasiertes Bremsverzögerungsmodell umfasst. Das Reaktionszeitmodell kann trainiert sein, um dem mindestens einen Fahrerparameter und dem mindestens einen Situationsparameter eine individuelle Reaktionszeit zuzuordnen. Das datenbasierte Bremsverzögerungsmodell kann trainiert sein, um dem mindestens einen Fahrerparameter, dem mindestens einen Fahrzeugparameter und/oder dem mindestens einen Situationsparameter eine Fahrzeugverzögerung bzw. Bremsverzögerung zuzuordnen, wobei die Anhaltegröße abhängig von der Reaktionszeit und der Verzögerung gemäß einem vorgegebenen physikalischen Modell ermittelt wird.
-
Insbesondere kann ein hybrides Modell vorgesehen sein, das den Anhalteweg s oder die Anhaltezeit tanh als Anhaltegröße zunächst aus einer Kombination einer geschätzten Reaktionszeit t
react auf eine signalisierte Kollisionswarnung, wodurch der Fahrer spätestens auf ein möglicherweise gefährdendes Ereignis aufmerksam gemacht wird, und einer Bremsverzögerung a
x, die der Fahrer im Fahrzeug nach der Kollisionswarnung aktuieren kann, gemäß dem physikalischen Modell berechnet.
wobei v
0 der Geschwindigkeit des Fahrzeugs entspricht, wenn die Kollisionswarnung ausgegeben wird.
-
Dazu können modellbasiert die Reaktionszeit und eine Bremsverzögerung, die der Fahrer nach einer Kollisionswarnung ausüben kann bzw. gewöhnlicherweise ausübt, angegeben werden. Die Berechnung der Reaktionszeit ist fahrer- und situationsabhängig und kann mithilfe des datenbasierten Reaktionszeitmodells als Teil des Anhaltemodells durchgeführt werden. Die fahrer- und situationsabhängige Reaktionszeit kann je nach Alter, Müdigkeit und aktueller Ablenkung der Aufmerksamkeit des Fahrers variieren. Das Reaktionszeitmodell kann entsprechend trainiert sein, um die Reaktionszeit abhängig von vorgegebenen Fahrerparametern und Situationsparametern, d. h. Parametern, die Einfluss auf die generelle und momentane Reaktionsfähigkeit des Fahrers haben, auszugeben.
-
Insbesondere kann die Reaktionszeit abhängig von der durch das datenbasierte Reaktionszeitmodell ermittelten Reaktionszeit und einer mittleren Reaktionszeit abhängig von einem Trainingszustand des datenbasierten Reaktionszeitmodells bestimmt werden.
-
Da die Fahrerparameter erst im laufenden Betrieb des Fahrzeugs erfasst und genutzt werden können, kann die Reaktionszeit sukzessive ausgehend von einer mittleren Reaktionszeit zu einer fahrerindividuellen Reaktionszeit angepasst werden. Dies kann durch eine geeignete Gewichtung sukzessive je nach Konfidenzgrad, d. h. je nach Trainingszustand des trainierten Modells, in Richtung der Modellaussage angepasst werden.
-
Zum Training des datenbasierten Reaktionszeitmodells können im Laufe der Benutzung die tatsächlichen Reaktionszeiten zwischen einer durch eine entsprechende Kollisionswarnfunktion im Fahrzeug ausgegebenen Kollisionswarnung und dem Einsetzen der Bremsaktuierung gemessen werden und diese den zum gleichen Zeitpunkt erfassten Fahrerparametern und Situationsparametern zugeordnet werden, um einen Trainingsdatensatz zu generieren.
-
Es kann vorgesehen sein, dass die aus dem datenbasierten Bremsverzögerungsmodell ermittelte Verzögerung durch eine Verzögerungsbegrenzung begrenzt ist, die sich insbesondere aus einem datenbasierten Begrenzungsmodell abhängig von Fahrzeugparametern ergibt.
-
Zur Bestimmung der Bremsverzögerung kann ein datenbasiertes Bremsverzögerungsmodell als Teil des Anhaltemodells vorgesehen sein. Das Bremsverzögerungsmodell kann ebenfalls datenbasiert trainiert werden, abhängig von mindestens einem Fahrerparameter, mindestens einem Situationsparameter und/oder mindestens einem Fahrzeugparameter. Dabei wird eine durchschnittliche Bremsverzögerung während einer Bremsbetätigung durch den Fahrer nach einer Kollisionswarnung ermittelt und diese in dem Bremsverzögerungsmodell trainiert. Zusätzlich kann eine maximal mögliche Bremsverzögerung in dem Bremsverzögerungsmodell berücksichtigt werden, beispielsweise basierend auf einer Reibung zwischen Rädern des Fahrzeugs und dem Untergrund und gegebenenfalls bei einem Zweirad als Fahrzeug als ein maximaler Bremseingriff, der noch nicht zum Überschlag des Zweirades führt.
-
Weiterhin können die Fahrerparameter einen oder mehrere der Parameter umfassen, die das Alter, eine körperliche und geistige Verfassung, einen Müdigkeitsgrad des Fahrers, ein Aufmerksamkeitsniveau des Fahrers, z. B. durch Berücksichtigen der Sitzhaltung, der Kopfhaltung, eines Handlenkmoments, mit dem der Fahrer auf das Lenkrad einwirkt, und dergleichen, angeben,
-
Die Fahrzeugparameter können einen oder mehrere der Parameter umfassen, die den Fahrzeugzustand angeben, wie z. B. bei einem Automobil eine Gaspedalposition, eine Beschleunigung in einer oder mehreren Raumrichtungen, eine Geschwindigkeit in Vorwärtsrichtung, eine Drehrate und einen Lenkwinkel sowie bei einem Zweirad ein Pedalmoment, einen Neigungswinkel und eine Geschwindigkeit, Drehrate und Beschleunigung des Zweirads.
-
Die Situationsparameter können einen oder mehrere Parameter umfassen, die die auf den Fahrer und das Fahrzeug einwirkende Situation angeben und insbesondere mindestens einen der folgenden Parameter umfassen: eine Angabe über eine aktuelle auf den Fahrer einwirkende äußere Ablenkung, insbesondere abhängig von einer Musiklautstärke, einem etwaig stattfindenden Telefonat oder einer Art des Mediums, das über das Entertainment-System konsumiert wird, einem Abwechslungsreichtum der Fahrzeugumgebung, z. B. Angabe über eine Stadtfahrt oder eine Autobahnfahrt, eine Wetterbedingung, insbesondere eine Angabe über eine Regensituation.
-
Es kann vorgesehen sein, dass der mindestens eine Fahrerparameter und/oder der mindestens eine Situationsparameter mehrere zeitlich versetzt erfasste Parameter umfassen oder aus diesen abgeleitet sind.
-
Gemäß einer Ausführungsform kann das Anhaltemodell einem hybriden Modell entsprechen, das ein datenbasiertes Reaktionszeitmodell und ein datenbasiertes Bremsverzögerungsmodell umfasst. Das Reaktionszeitmodell kann trainiert sein, um dem mindestens einen Fahrerparameter und dem mindestens einen Situationsparameter eine individuelle Reaktionszeit zuzuordnen. Das datenbasierte Bremsverzögerungsmodell kann trainiert sein, um dem mindestens einen Fahrerparameter, dem mindestens einen Fahrzeugparameter und/oder dem mindestens einen Situationsparameter eine Fahrzeugverzögerung bzw. Bremsverzögerung zuzuordnen, wobei die Anhaltegröße abhängig von der Reaktionszeit und der Verzögerung gemäß einem vorgegebenen physikalischen Modell ermittelt wird.
-
Weiterhin können das datenbasierte Anhaltemodell, das datenbasierte Reaktionszeitmodell, das datenbasierte Bremsverzögerungsmodell und/oder das datenbasierte Bremsbegrenzungsmodell ein Gauß-Prozess-Modell, ein lineares Modell oder ein neuronales Netz umfassen.
-
Gemäß einem weiteren Aspekt ist ein Verfahren zum Trainieren eines datenbasierten Reaktionszeitmodells für ein Anhaltemodell, insbesondere zur Verwendung in dem obigen Verfahren, vorgesehen, mit folgenden Schritten:
- - Ermitteln von Trainingsdatensätzen, indem jeweils mindestens ein Fahrerparameter und/oder mindestens ein Situationsparameter zum Zeitpunkt einer ausgelösten Kollisionswarnung erfasst werden und eine Reaktionszeit eines Fahrers nach der entsprechend ausgelösten Kollisionswarnung bis zur Betätigung einer Fahrzeugbremse gemessen wird, wobei dem mindestens einen Fahrerparameter und/oder dem mindestens einen Situationsparameter die Reaktionszeit zugeordnet wird, um einen der Trainingsdatensätze zu bilden;
- - Trainieren des Reaktionszeitmodells basierend auf den Trainingsdatensätzen.
-
Gemäß einem weiteren Aspekt ist ein Verfahren zum Trainieren eines datenbasierten Bremsverzögerungsmodells für ein Anhaltemodell, insbesondere zur Verwendung in dem obigen Verfahren, vorgesehen, mit folgenden Schritten:
- - Ermitteln von Trainingsdatensätzen, indem mindestens ein Fahrerparameter und/oder mindestens ein Situationsparameter und/oder mindestens ein Fahrzeugparameter zum Zeitpunkt einer ausgelösten Kollisionswarnung erfasst werden und eine durchschnittliche Bremsverzögerung während einer Bremsbetätigung durch den Fahrer nach der ausgelösten Kollisionswarnung gemessen wird, wobei dem mindestens einen Fahrerparameter und/oder dem mindestens einen Situationsparameter und/oder dem mindestens einen Fahrzeugparameter die durchschnittliche Bremsverzögerung zugeordnet wird, um einen der Trainingsdatensätze zu bilden;
- - Trainieren des Reaktionszeitmodells basierend auf den Trainingsdatensätzen.
-
Gemäß einem weiteren Aspekt ist eine Vorrichtung zum Betreiben eines Fahrzeugs bzw. zum Bestimmen einer Anhaltegröße eines Fahrzeugs, insbesondere eines Anhaltewegs und/oder einer Anhaltezeit, vorgesehen, wobei die Vorrichtung ausgebildet ist zum:
- - Bestimmen von mindestens einem Fahrerparameter, mindestens einem Situationsparameter und/oder mindestens einem Fahrzeugparameter,
- - Bereitstellen eines trainierten datenbasierten Anhaltemodells, das trainiert ist, um dem mindestens einen Fahrerparameter, dem mindestens einen Situationsparameter und/oder dem mindestens einen Fahrzeugparameter die Anhaltegröße zuzuordnen;
- - Bestimmen der Anhaltegröße mithilfe des trainierten datenbasierten Anhaltemodells abhängig von dem mindestens einen Fahrerparameter, dem mindestens einen Situationsparameter und/oder dem mindestens einen Fahrzeugparameter; und
- - Durchführen einer Fahrzeugfunktion, insbesondere einer Kollisionswarnfunktion abhängig von der Anhaltegröße.
-
Figurenliste
-
Ausführungsformen werden nachfolgend anhand der beigefügten Zeichnungen näher erläutert. Es zeigen:
- 1 eine schematische Darstellung eines Fahrzeugs in einer Umgebung mit dynamischen Umgebungsobjekten;
- 2 ein Flussdiagramm zur Veranschaulichung eines Verfahrens zur Ermittlung eines fahrerindividuellen Anhaltewegs; und
- 3 ein Funktionsdiagramm zur Veranschaulichung der Ermittlung des fahrerindividuellen Anhaltewegs.
-
Beschreibung von Ausführungsformen
-
1 zeigt eine schematische Darstellung eines Fahrzeugs 1 mit einer Steuereinheit 11 und Umgebungserfassungssensorik 12 zur Erfassung eines Umgebungsbereichs U des Fahrzeugs 1. Im Umgebungsbereich U des Fahrzeugs 1 befinden sich dynamische Umgebungsobjekte 2, deren Position und ggfs. deren Geschwindigkeit mithilfe der Umgebungserfassungssensorik 12 in an sich bekannter Weise erfasst werden können. Mithilfe geeigneter in der Steuereinheit 11 implementierter Verfahren kann dann eine Kollisionserwartungszeit ermittelt werden. Die Kollisionserwartungszeit (Time to Collision) entspricht einer Zeitdauer, mit der ein voraussichtliches Auftreffen des dynamischen Umgebungsobjekts auf das eigene Fahrzeug 1 erkannt werden kann.
-
In der Steuereinheit 11 kann eine Fahrzeugfunktion in Form einer Kollisionswarnfunktion vorgesehen sein, die abhängig von der Kollisionserwartungszeit eines dynamischen Umgebungsobjekts eine Kollisionswarnung an den Fahrer des Fahrzeugs 1, insbesondere durch die Ausgabe optischer und/oder akustischer Warnsignale, ausgibt, damit dieser auf die Gefahr aufmerksam gemacht wird und in geeigneter Weise insbesondere durch einen Bremseingriff reagieren kann. Die Fahrzeugfunktion ermittelt dazu insbesondere einen Entfernungs- und/oder Zeitschwellenwert, bei dessen Unterschreitung durch die Kollisionserwartungszeit eine Kollisionswarnung ausgegeben wird. Das heißt, unterschreitet die Kollisionserwartungszeit einen Zeitschwellenwert oder unterschreitet der Anhalteweg den Entfernungsschwellenwert, wird eine entsprechende Warnung ausgegeben.
-
Zum Ermitteln des Entfernungs- und/oder Zeitschwellenwerts ist in der Steuereinheit 11 ein Anhaltemodell implementiert, um für einen aktuellen Fahrzeug- und Fahrerzustand eine Anhaltegröße, die einem Anhalteweg oder einer Anhaltezeit entspricht, zu ermitteln. Das Anhaltemodell umfasst ein oder mehrere datenbasierte Modelle, die beispielsweise als Regressionsmodelle oder Machine-Learning-Modelle, wie z. B. neuronale Netze, ausgebildet sein können.
-
Das Anhaltemodell kann einem hybriden Modell entsprechen, das z. B. einen Anhalteweg (als Beispiel für die Anhaltegröße) eine Summe aus Reaktionsweg und Bremsweg berechnet.
-
Zum Ausführen der Kollisionswarnfunktion in der Steuereinheit 11 wird ein Verfahren ausgeführt, wie es aus der 2 bekannt ist. In 3 ist eine entsprechende Funktionsblockdarstellung gezeigt.
-
Ziel ist es, den Anhalteweg s gemäß einem physikalischen Modell
aus einer Kombination einer geschätzten Reaktionszeit t
react auf eine signalisierte Kollisionswarnung und einer Bremsverzögerung a
x„ die der Fahrer im Fahrzeug nach der Kollisionswarnung aktuieren kann, zu berechnen, wobei v
0 der Geschwindigkeit des Fahrzeugs entspricht, wenn die Kollisionswarnung ausgelöst wird.
-
Dazu wird in Schritt S1 zunächst die Geschwindigkeit v0 des Fahrzeugs 1 in an sich bekannter Weise ermittelt.
-
In Schritt S2 werden Fahrerparameter F und Situationsparameter S erfasst. Fahrerparameter und Situationsparameter sind diejenigen Parameter, die eine Reaktionszeit des Fahrers auf eine Kollisionswarnung beeinflussen können.
-
Die Fahrerparameter F können Parameter umfassen, die das Alter, die Verfassung, einen Müdigkeitsgrad des Fahrers, beispielsweise abgeleitet aus Häufigkeit und Stärke von Lenkkorrekturen, Sitzhaltung und dergleichen, eine Sitz- und/oder Kopfhaltung angeben. Für Zweiradfahrer können diese beispielsweise Pedalmomentverlauf und Kadenz umfassen. Jeder der Fahrerparameter kann auch in seinem zeitlichen Verlauf erfasst werden, um entsprechende zeitlich versetzte Werte als separate Eingangsgrößen des Reaktionszeitmodells zu verwenden oder daraus geeignete Fahrerparameter zu ermitteln.
-
Die Situationsparameter S können die auf den Fahrer einwirkende Situation, wie z. B. eine aktuelle Ablenkung des Fahrers, beispielsweise abhängig von einer Musiklautstärke, eines etwaig stattfindenden Telefonats oder einer Art des Mediums, das über das Entertainment-System konsumiert wird, einen Abwechslungsreichtum der Umgebung, wie z. B. Angaben über eine Autobahnfahrt oder einer Fahrt in einem Stadtgebiet, und dergleichen, angeben.
-
In Schritt S3 wird ein datenbasiertes Reaktionszeitmodell 31 verwendet, um abhängig von den Fahrerparametern F und Situationsparametern S eine tatsächlich geschätzte Reaktionszeit treact des Fahrers bereitzustellen.
-
Da die Genauigkeit der mit dem Reaktionszeitmodell 31 geschätzten Reaktionszeit von dem Lernzustand des datenbasierten Reaktionszeitmodells 31 abhängt, kann der Lernzustand als weitere Eingangsgröße des Reaktionszeitmodells 31 verwendet werden. Alternativ kann zwischen einer vorgegebenen mittleren Reaktionszeit t
mean (empirisch bestimmt) und einer durch das Reaktionszeitmodell geschätzten Reaktionszeit t
pred in einem Interpolationsblock 32 interpoliert werden entsprechend:
-
Dabei entspricht der Faktor α einer Angabe über die Zuverlässigkeit des datenbasierten Reaktionszeitmodells. Anfänglich entspricht α = 1, so dass die angenommene Reaktionszeit der mittleren Reaktionszeit entspricht. Abhängig von dem Trainingszustand, d. h. je mehr Trainingsdatensätze gesammelt worden sind und dadurch die Akkuratheit des damit trainierten datenbasierten Reaktionszeitmodells zunimmt, wird der Faktor α immer weiter reduziert. Beispielsweise kann α entsprechend der Anzahl T der für das Training des Reaktionszeitmodells verwendeten Trainingsdatensätze, mit denen das datenbasierte Reaktionszeitmodell 31 trainiert worden ist, entsprechend folgender Formel berechnet werden. α = 1 - e^-1/T
-
Zur Ermittlung der geschätzten Reaktionszeit tpred durch das Reaktionszeitmodell kann ein probabilistisches Regressionsmodell oder ein neuronales Netz verwendet werden. Ein probabilistisches Regressionsmodell ist vorteilhaft, da es die Fahrer- und Situationsparameter effizient und effektiv modellieren kann und weniger Trainingsdatensätze zum Trainieren benötigt als ein mehrschichtiges nichtlineares Modell, wie z. B. ein neuronales Netz. Zudem liefert ein probabilistisches Regressionsmodell eine Vorhersageunsicherheit, die auf den Faktor α abgebildet werden kann, so dass α mit abnehmender Vorhersageunsicherheit ebenfalls abnimmt.
-
Zum Trainieren des Reaktionszeitmodells können den Fahrerparametern F und den Situationsparameter S im täglichen Betrieb auf eine Kollisionswarnung gemessene Reaktionszeiten (Labels) zugeordnet werden, um einen Trainingsdatensatz zu erzeugen. Beispielsweise kann das Reaktionszeitmodell nach jeder Ermittlung einer Reaktionszeit infolge einer ausgelösten Kollisionswarnung nachtrainiert werden. Gibt es Trainingsdatensätze von mehreren Fahrern, kann aus diesen zudem ein fahrerunabhängiges Reaktionszeitmodell gelernt werden, das beispielsweise als Initialisierung des Reaktionszeitmodells 31 für neue Fahrzeuge mit unbekannten Fahrern verwendet werden kann.
-
Als Fahrerparameter F und Situationsparameter S für das Reaktionszeitmodell für ein pedalgetriebenes Zweirad, wie beispielsweise ein E-Bike, können in Schritt S2 jeweils alternativ oder zusätzlich zu den oben genannten Fahrerparametern eine oder mehrere der folgenden Parameter umfassen: Pedalmoment, Neigungswinkel, Geschwindigkeit, Drehrate und Beschleunigung des Fahrzeugs, z. B. gemessen mithilfe von Sensoren eines Smartphone, das fest mit dem Rahmen des Zweirads verbunden ist, so dass Lenkmuster des Fahrers ausgewertet werden können, oder dergleichen. Jeder der Fahrerparameter kann auch in seinem zeitlichen Verlauf erfasst werden, um entsprechende zeitlich versetzte Werte als separate Eingangsgrößen des Reaktionszeitmodells zu verwenden oder daraus geeignete Fahrerparameter zu ermitteln.
-
In Schritt S4 wird abhängig von den Fahrerparametern, den Situationsparametern und Fahrzeugparametern eine fahrerindividuelle Verzögerung aFahrer mithilfe eines datenbasierten Bremsverzögerungsmodells 33 geschätzt. Grundsätzlich ergibt sich die geschätzte fahrerindividuelle Verzögerung aFahrer aus den Fahrerparametern, da jeder Fahrer individuell die Bremsbetätigung durchführt. So können Fahrer bei Bemerken einer Kollisionswarnung schnell einen starken Bremseingriff durchführen, während andere Fahrer den Bremseingriff zögerlich und mit einem geringeren Gradienten durchführen.
-
Das Bremsverzögerungsmodell 33 kann in entsprechender Weise wie das Reaktionszeitmodell 31 im Laufe einer Betriebszeit des Fahrzeugs 1 durch Erfassen von Fahrerparametern F, Fahrzeugparametern FZ und Situationsparametern S deren Zuordnung zu tatsächlichen, insbesondere initialen Verzögerungen bzw. Bremseingriffen nach Kollisionswarnungen trainiert werden.
-
Die Fahrzeugparameter FZ für das Reaktionszeitmodell können bei einem Automobil als Fahrzeug einen oder mehrere der folgenden Parameter umfassen: eine Fahrpedalposition, eine Beschleunigung in einer oder mehreren Raumrichtungen, eine Geschwindigkeit des Fahrzeugs in Vorwärtsrichtung, eine Drehrate, einen Lenkwinkel und dergleichen. Beim Zweirad können diese Parameter einen oder mehrere der folgenden Parameter umfassen: ein Pedalmoment, einen Neigungswinkel, eine Geschwindigkeit, eine Drehrate und eine Beschleunigung des Zweirads.
-
Jeder Parameter kann auch in seinem zeitlichen Verlauf erfasst werden, um entsprechende zeitlich versetzte Werte als separate Eingangsgrößen des Reaktionszeitmodells zu verwenden oder daraus geeignete Fahrzeugparameter FZ zu ermitteln.
-
Die fahrerindividuelle Verzögerung a
Fahrer kann in Schritt S5 durch spezifische Eigenschaften des Fahrzeugs in einem Begrenzungsblock 34 begrenzt werden, um die Verzögerung a
x zu erhalten. Die Verzögerung a
x kann sich ergeben aus
wobei die Verzögerungsbegrenzung a
Begrenzung der fahrzeugspezifischen maximal ausübbaren Verzögerung entspricht, die sich aus der Radreibung bei einem Automobil und einer Überschlagsgefahr bei einem Zweirad als Fahrzeug ergibt. Die Überschlagsgefahr bestimmt bei einem Zweirad die maximale Verzögerung, die umgesetzt werden kann, ohne das Vorderrad zu blockieren.
-
Die maximale Verzögerung aBegrenzung der Verzögerungsbegrenzung unter Berücksichtigung der Überschlagsgefahr entspricht einer Funktion aus einer Straßenneigung und einem Winkel, der sich aus der Position des Schwerpunkts des Fahrers ergibt.
-
Da eine Verlagerung des Schwerpunkts bei einem Bremsvorgang fahrerindividuell ist, kann mithilfe eines datenbasierten Begrenzungsmodells 35 die Verzögerungsbegrenzung bei Zweirädern direkt oder indirekt abhängig von den Fahrerparametern bestimmt werden.
-
Bei einer indirekten Anwendung des datenbasierten Begrenzungsmodells 35 kann eine fahrerindividuelle Änderung der Position des Schwerpunktes des Fahrers bestimmt werden, aus der die Verzögerungsbegrenzung in an sich bekannter Weise über den Winkel zwischen Schwerpunkt und Bodenkontaktpunkt des Vorderrades und Fahrbahnverlauf ermittelt werden kann. Das datenbasierte Begrenzungsmodells kann erneut durch ein Regressionsmodell oder ein sonstiges Machine-Learning-Modell, wie z. B. ein neuronales Netz, gebildet werden.
-
Allgemein können die Fahrzeugparameter FZ, die dem Begrenzungsmodell als Eingangsgrößen bereitgestellt werden, eines oder mehrere der folgenden Merkmale umfassen: aktueller Neigungswinkel, die aktuelle Geschwindigkeit und Beschleunigungen in x/y/z-Richtung sowie die Straßenneigung.
-
Die Abschätzung von ax für Automobile kann ebenfalls fahrer- und situationsabhängig sein. Die Verzögerungsbegrenzung aBegrenzung kann sich hierbei aus der Haftreibung der Räder auf dem Untergrund und der Fahrbahnneigung ergeben.
-
In Schritt S6 wird aus der geschätzten Reaktionszeit t
react, der geschätzten Bremsverzögerung a
x, und der aktuellen in an sich bekannter Weise erfassten oder bereitgestellten Fahrzeuggeschwindigkeit v
0 ein Anhalteweg entsprechend einem physikalischen Modell in einem Gesamtmodellblock 36
ermittelt.
-
In einer alternativen Ausführungsform kann eine Anhaltezeit tanh ermittelt werden:
-
In Schritt S7 wird in an sich bekannter Weise aus dem Anhalteweg s bzw. der Anhaltezeit tanh ein Entfernungs- und/oder Zeitschwellenwert für eine in Schritt S8 ausgeführte Kollisionswarnfunktion ermittelt. Dies kann unter Berücksichtigung einer Toleranz erfolgen.
-
In Schritt S8 wird überprüft, ob der Entfernungs- und/oder Zeitschwellenwert durch den Anhalteweg s bzw. die Anhaltezeit tanh unterschritten wird. Ist dies der Fall (Alternative: Ja), so wird in Schritt S9 eine Kollisionswarnung ausgegeben. Anderenfalls (Alternative: Nein) wird zu Schritt S1 zurückgesprungen.
-
Als datenbasiertes Reaktionszeitmodell 31, Bremsverzögerungsmodell 33 und Begrenzungsmodell 35 kommen Gauß-Prozess-Modelle, lineare Modelle, neuronale Netze und dergleichen in Betracht. Diese können in bekannter Weise mithilfe von Trainingsdatensätzen trainiert werden, wobei ein erstes Training nach einer vorbestimmten Anzahl, wie beispielsweise 100, von Trainingsdatensätzen erfolgen kann. Im weiteren Verlauf kann nach einer vorgegebenen Anzahl von weiteren Trainingsdatensätzen ein Nachtrainieren des entsprechenden datenbasierten Modells vorgenommen werden, sobald weitere Trainingsdaten zur Verfügung stehen.