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Die
vorliegende Erfindung betrifft ein Arzneimittel zur Behandlung der Phantomphänomene
des akuten Tinnitus und/oder des Phantomschmerzes, ein Verfahren
zur Herstellung eines solchen Arzneimittels sowie ein Verfahren
zur Behandlung dieser Phantomphänomene.
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Unter
dem Phantomphänomen des Tinnitus werden von einem Patienten
wahrgenommene Geräusche verstanden, die durch das Ohr und
das auditorische System erzeugt werden. Tinnitus, der erst seit
wenigen Wochen bis drei Monaten besteht, wird als akuter Tinnitus
bezeichnet. Besteht der Tinnitus länger als ein Jahr, wird
er als chronisch bezeichnet. Nach epidemiologischen Erhebungen sind
in Deutschland ca. drei Millionen Erwachsene. In allen Altersstufen
schwanken die Zahlen der von chronischem Tinnitus Betroffenen je
nach Studie zwischen 4,4% und 15%. Global betrachtet kommt es jährlich bei
ca. zehn Millionen Menschen zu Tinnitus, der bei ca. 340.000 von
einer akuten in eine chronische Form übergeht, sog. Neuerkrankungsrate.
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Zu
den vielfältigen Ursachen des Tinnitus gehören
chronische Lärmschädigungen, akute Knallverletzungen
des Gehörs, Hörsturz und anderweitige Erkrankungen,
die mit einem Hörverlust einhergehen. Zusammenhänge
mit Innenohrschwerhörigkeit als chronisch-fortschreitende
Form oder als Lärmschwerhörigkeit, gefolgt von
Morbus Menière und Hörsturz stehen gemäß klinischen
Studien bei mehr als zwei Drittel im Zusammenhang mit Tinnitus.
An der Entstehung und Aufrechterhaltung des Tinnitus sind auch Erkrankungen
der Halswirbelsäule sowie des Kiefergelenks und Kaumuskelsystems
beteiligt. Tinnitus scheint auch eine psychische Komponente aufzuweisen,
so dass in diesem Zusammenhang von psychogenem Tinnitus gesprochen
wird. In vielen Fällen lässt sich jedoch trotz
intensiver Diagnostik keine sichere Ursache des Tinnitus erkennen.
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Derzeit
wird Tinnitus mit psychosomatischer Behandlung, Relaxationstherapie,
Biofeedback, Hypnotherapie, elektrischer Stimulation, Lidocain,
Iontophorese oder Maskierung therapiert. Hierbei handelt es sich
jedoch um ausschließlich symptomatische Therapiekonzepte.
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Die
WO 02/15907 A1 schlägt
die Behandlung von Tinnitus durch die Verabreichung des Kalium-Kanal-Öffners
Flupirtin vor. Diese Behandlung hat den Nachteil, dass es sich bei
Flupirtin zusätzlich um ein muskelrelaxierendes Analgetikum
handelt, wodurch eine Applikation mit nicht zu tolerierenden Nebenwirkungen
verbunden wäre.
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Wang
et al. (2000), Evaluating effects of some medicine on tinnitus with
animal behavioral model in rats, Zhonghua Er. Bi. Yan. Hou. Ke.
Za. Zhi. 35 (5), abstract, schlagen die Verabreichung von
Nimodipin zur Behandlung von Tinnitus vor. Bei Nimodipin handelt
es sich um einen Inhibitor des Ca++-Kanals Cav1.3.
Dabei hat sich allerdings ergeben, dass die Blockade des Cav1.3-Kanals
im auditorischen System unmittelbar zur Taubheit führen
würde, so dass Nimodipin für die Behandlung von
Tinnitus gänzlich ungeeignet ist.
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In
der
WO 2004/022069
A1 werden als eine der möglichen Ursachen von
Tinnitus aberrante NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptoren beschrieben.
Diese veränderten sog. Glutamatrezeptorkanäle,
die u. a. von auditorischen Nervenzellen exprimiert werden, führen
zu verstärktem Einstrom von Calcium in die Zelle. In diesem
Dokument wird vorgeschlagen, zur Behandlung von Tinnitus NMDA-Rezeptor-Antagonisten
einzusetzen. Völlig unklar bleibt allerdings, ob mit diesen
Substanzen die akute oder chronische Situation des Tinnitus zu behandeln
ist. Ferner finden sich keinerlei Hinweise, wie die Applikation
der Substanzen zu erfolgen hat.
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In
der
DE 101 24 953
A1 wird ein Behandlungskonzept bei Tinnitus vorgeschlagen,
das in der Stimulation der Expression des „Brain-derived
Nerve Growth Factors" (BDNF) liegt. Die dortigen Autoren beschreiben
auf der Grundlage eines Tiermodelles, dass bei chronischem Tinnitus
in der Cochlea und im Inferioren Colliculus eine Erniedrigung der
BDNF-Expression vorherrscht, weshalb als therapeutischer Ansatz
die Stimulation der BDNF-Expression vorgeschlagen wird. Die dortigen
Autoren haben jedoch ganz konkret und ausschließlich die
Situation bei chronischem Tinnitus untersucht. So wurden die in dem
Tiermodell verwendeten Ratten über drei Monate mit Salicylaten
behandelt, wodurch bekanntermaßen chronischer Tinnitus
induziert wird; vgl.
Penner M. J., und Jastreboff P. J.
(1996), Tinnitus: Psycho-physical observations in humans and animal
models, in: Van de Water, Popper A. N., Fax, R. R. (Ed.), Clinical
aspects of hearing, Springer, New York, Heidelberg, Seiten 208 bis
304; und
Bauer, C. A., et al. (1999), A behavioral
model of chronic Tinnitus in rats. Otolaryngol. Head Neck Surg.
121, Seiten 457 bis 462. Nicht erkannt wurde von den Autoren
der
DE 101 24 953
A1 jedoch, dass es signifikante Unterschiede zwischen der
Behandlung von chronischem und akutem Tinnitus geben muss.
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In
der
WO 2006/079476 wird
vorgeschlagen, dass die Phantomphänomene des akuten Tinnitus als
auch des Phantomschmerzes durch die Verwendung einer mit der BDNF-Signaltransduktionskaskade
interagierenden Substanz, wie bspw. einem GABA-Rezeptor-Agonisten,
behandelt werden könnten.
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Ein Überblick über
das Krankheitsbild des Tinnitus findet sich bspw. in Waddell,
A., Canter, R. (2004), Tinnitus, Am. Fam. Physician 69, Seiten 591 bis
592.
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Unter
dem Phantomphänomen des Phantomschmerzes wird die Projektion
von Empfindungen in ein amputiertes oder z. B. durch Plexusschädigung oder
Querschnittslähmung denerviertes Körperteil, eine
Extremität, die Mamma, das Rektum, ein Zahn u. a. verstanden.
Dieses Körperteil wird als vorhanden erlebt und nach Extremitätenamputation
bspw. als direkt am Stumpf aufsitzende geschwollene Hand bzw. Fuß empfunden.
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Zahlenangaben,
in wie vielen Fällen es nach einer Amputation zu einem
Phantomschmerz kommt, sind uneinheitlich und reichen von 5 bis 100%.
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Phantomschmerzen
werden bislang im Rahmen von Schmerztherapien bspw. mit Antikonvulsiva,
Baclofen oder Calcitonin, behandelt. Unterstützend werden
gelegentlich schmerzdistanzierende Antidepressiva verwendet. Auch
werden operative Methoden angewendet, mittels derer bspw. Nerven blockiert
oder stimuliert werden. Eine gezielte, ursächliche Behandlungsmethode
existiert bislang jedoch nicht, insbesondere deshalb nicht, da die
molekularen zugrundeliegenden Mechanismen nicht voll verstanden
werden.
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Einen Überblick über
das Krankheitsbild des Phantomschmerzes findet sich in Middleton,
C. (2003), The causes and treatments of phantom limb pain, Nurs.
Times 99, Seiten 30 bis 33.
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Aufgabe
der vorliegenden Erfindung ist es deshalb, eine neue Substanz bzw.
ein neues Therapiekonzept bereitzustellen, mit der bzw. dem gezielt die
Phantomphänomene des akuten Tinnitus sowie des Phantomschmerzes
behandelt werden können, wobei die Nachteile aus dem Stand
der Technik vorzugsweise vermieden werden sollen.
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Diese
Aufgabe wird durch die Bereitstellung eines Glycinrezeptor-Agonisten
gelöst.
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Die
Erfinder haben völlig überraschend festgestellt,
dass Glycinrezeptoren, die bislang vorwiegend im zentralen Nervensystem
lokalisiert werden konnten, auch im Innenrohr exprimiert werden
und bei der Bindung eines Glycinrezeptor-Agonisten inhibitorische
Signale an den Hörnerv weiterleiten. Die Erfinder haben
ferner erkannt, dass durch die Applikation eines Glycinrezeptor-Agonisten
und die resultierenden inhibitorischen Signale die bei Phantomphänomenen
beobachtete Überaktivität des Hörnervs
korrigiert werden kann. Glycinrezeptor-Agonisten stellen deshalb
neue Substanzen dar, mit denen Phantomphänomene zielgerichtet
therapiert werden können.
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Die
der Erfindung zugrunde liegende Aufgabe wird deshalb mit der Bereitstellung
von Gycinrezeptor-Agonisten vollkommen gelöst.
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Dabei
ist es bevorzugt, wenn als Glycinrezeptor-Agonist eine Substanz
vorgesehen wird, die ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend
aus D-Alanin, L-Alanin, L-Serin, Taurin, Cannabinoid, Tropin, Nortropin
und Derivate hiervon.
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Diese
Maßnahme hat den Vorteil, dass solche agonistischen Substanzen
vorgesehen werden, die hochaffin an den Glycinrezeptor binden, einfach und
kostengünstig zu synthetisieren und zu formulieren sind.
Bevorzugte Tropine und Nortropin werden beschrieben in Maksay
et al. (2007), Synthesis of (nor)tropeine (di)esters and allosteric
modulaton of glycine receptor binding, Bioorg. Med. Chem., Onlineveröffentlichung
vom 4. November; Maksay et al. (2007), Synthesis
of tropeines and allosteric modulation of ionotropic glycine receptors,
J. Med. Chem., 47(25): 6384–6391, in der Ester
von 3 Alpha- und 3 Beta-hydroxy(nor)tropanen und Amide von 3 Alpha-aminotropanen
veröffentlicht warden; Bíró T.
und Maksay G. (2004), Allosteric modulaton of glycine receptors
is more efficacious for partial rather than full agonists, Neurochem.
Int., 44(7): 521–527. Der Inhalt der vorstehend
genannten Publikation ist durch Inbezugnahme Bestandteil der vorliegenden
Anmeldung.
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Das
als Glycinrezeptor-Agonist verwendbare Cannabinoid ist vorzugsweise
ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Anandamid, Arachidonylglycerol,
Tetrahydrocannabinol, WIN 55,212-2.
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Diese
Maßnahme hat den Vorteil, dass bereits solche Cannabinoide
bereitgestellt werden, die sich als besonders geeignet erwiesen
haben. Iatsenko et al. (2007), The synthetic cannabinoid
analog WIN 55,212-2 potentiates the amplitudes of glycineactivated
currents, Article in Ukrainian, Fiziol Zh., 53(3): 31–37,
beschreiben ein Cannabinoid mit der Bezeichnung WIN 55,212-2, der
einen besonders wirksamen Glycinrezeptor-Agonisten darstellt. Der Inhalt
der vorstehend genannten Publikation ist Bestandteil der vorliegenden
Anmeldung.
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Nach
einer vorteilhaften Weiterbildung der erfindungsgemäßen
Verwendung wird die Substanz lokal am oder im Ohr, vorzugsweise über
die Rundfenstermembran, bzw. an der Stelle der Amputation appliziert.
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Diese
Maßnahme hat den Vorteil, dass die Substanz gezielt am
Wirkort verabreicht wird, so dass nur geringe Mengen an Wirksubstanz
erforderlich sind. Dadurch wird der Körper des behandelten Patienten
im Übrigen weniger belastet und Nebenwirkungen werden weit
gehend reduziert. Im Falle einer Behandlung von akutem Tinnitus
bietet sich das Mikrodosiersystem an, das von Lehner, R.
et al. (1996), A new implantable drug delivery system for lokal
therapy of the middle and inner ear, Ear. Nose Throat 76, Seiten
567 bis 570, beschrieben wird.
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Die
lokale Applikation kann alternativ auch über die Verwendung
von bioabbaubarem Hydrogel erfolgen, das als Trägermatrix
für den Glycinrezeptor-Agonisten dient. Derartiges bioabbaubares
Hydrogel wurde bereits erfolgreich im Tiermodell zur lokalen Applikation
von BDNF an das runde Fenster des Innenohres angewandt; Ito
et al. (2005), A new method for drug application to the inner ear,
J. Otorhinolaryngol. Relat. Spec., Seiten 272–275.
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Alternativ
können zur Applikation über die Rundfenstermembran
Gel-Pellets verwendet werden, wie bspw. die Produkte Gelita®-Tampons, B. Braun, Melsungen AG,
Deutschland. Alternativ kommen biokompatible Nanopartikel in Frage,
wie diese bspw. beschrieben werden in Durán J.
D. et al. (2007), Magnetic colloids as drug vehicles, J. Pharm. Sci,
Online-Publikation, Mohamed F. und van der Walle
C. F. (2008), Engineering biodegradable polyester particles with
specific drug targeting and drug release properties, J. Pharm. Sci,
97(1): 71–87, Abstract vom Dezember 2007; Gupta
S. und Moulik S. P. (2008), Biocompatible microemulsions and their
prospective uses in drug delivery, J. Pharm. Sci., 97(1): 22–45,
Abstract online veröffentlicht im Dezember 2007.
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Nach
einer erfindungsgemäßen Weiterentwicklung weist
das Arzneimittel eine weitere gegen Phantomphänomene wirksame
Substanz auf, die ausgewählt ist aus der Gruppe bestehend
aus GABA-Rezeptor-Agonisten, insbesondere Benzodiazepine und mit
diesen verwandte Substanzen, Baclofen, Gamma-Vinyl-GABA, Gamma-Acetylen-GABA, Progabid,
Muscimol, Iboten, Natriumvalproat und Tetrahydroisoxazolopyridin
(THIP), MAP-Kinase-Inhibitoren, insbesondere U 0126 oder PD 98058,
Cam-Kinase-Inhibitoren, L-Typ-Ca++-Kanal-Antagonisten, insbesondere
Nicardipin oder Nifedipin oder Isradipin, CREP-Antagonisten, Glutamat-Antagonisten, trkB-Antagonisten.
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Diese
Maßnahme hat den Vorteil, dass ein besonders gegen Phantomphänomene
potentes Arzneimittel bereitgestellt wird. Konkret wird hierbei
Nutzen gezogen aus den Erkenntnissen der Autoren der
WO 2006/079476 , die beschrieben
haben, dass die vorstehende Substanzen geeignet sind, um Phantomphänomene
ursächlich zu behandeln.
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Ein
weiterer Gegenstand der vorliegenden Erfindung betrifft ein Verfahren
zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung der Phantomphänomene
des akuten Tinnitus und/oder des Phantomschmerzes bei einem menschlichen
oder tierischen Lebewesen, das folgende Schritte aufweist: (a) Bereitstellen
eines Glycinrezeptor-Agonisten, und (b) Formulierung des Glycinrezeptor-Agonisten
in einen pharmazeutisch akzeptablen Träger.
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Pharmazeutisch
akzeptable Träger und pharmazeutische Hilfsstoffe sind
im Stand der Technik hinreichend bekannt, vgl. bspw. Kibbe
A. H. (2000), Handbook of Pharmaceutical Excipients, 3rd Edition,
American Pharmaceutical Association and Pharmaceutical Press,
der Inhalt dieser Publikation ist durch Inbezugnahme Bestandteil
der vorliegenden Beschreibung.
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Ein
weiterer Gegenstand der vorliegenden Erfindung betrifft ein Verfahren
zur Behandlung der Phantomphänomene des akuten Tinnitus
und/oder Phantomschmerzes bei einem menschlichen Lebewesen, das
folgende Schritte aufweist: (a) Bereitstellen eines Arzneimittels,
(b) Applizieren, ggf. lokal am oder im Ohr bzw. an der Stelle der
Amputation, des Arzneimittels dem Lebewesen, und ggf. (c) Wiederholen
der Schritte (a) und (b), wobei als Arzneimittel das Arzneimittel
der eingangs beschriebenen erfindungsgemäßen Verwendung
vorgesehen ist.
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Es
versteht sich, dass die vorstehend genannten und die nachstehend
noch zu erläuternden Merkmale nicht nur in der jeweils
angegebenen Kombination, sondern auch in anderen Kombinationen oder
in Alleinstellung verwendbar sind, ohne den Rahmen der vorliegenden
Erfindung zu verlassen.
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Die
Erfindung wird nun anhand von Ausführungsbeispielen näher
erläutert werden, die rein illustrativ sind und aus denen
sich weitere Merkmale und Vorteile der Erfindung ergeben.
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In
den beiliegenden Figuren ist Folgendes dargestellt:
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1 Detektion
von GlyRα3, GlyRβ und Gephyrin in der Rattencochlea.
Die cDNA aus der Rattencochlea wurde durch RT-PCR in verschiedenen postnatalen
Stadien (P14, > P21)
analysiert. P14 und > P21,
Amplifikation von Transkripten von GlyRα3 (512 < bp) GlyRβ (732
bp) und Gephyrin (573 bp). Auffällig ist die Doppelbande
für GlyRα3 (467 bp/512 bp, durch Pfeile angedeutet)
in adulten Tieren. Transkripte von GlyRα1 und GlyRα2
wurden nicht detektiert. sc P21, Rückenmark aus P21-Tieren
wurde als Positivkontrolle für GlyRα1-3, GlyRβ,
Gephyrin und β-Actin verwendet. β-Actin (655 bp)
wurde als ein Haushaltsgen verwendet;
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2 Detektion von GlyRα3_K- und GlyRα3_L-Splicevarianten
in der adulten Rattencochlea (> P21).
a) GlyRα3-Transkripte aus der adulten Rattencochlea wurden
durch RT-PCR amplifiziert. Auffällig ist die Doppelbande
(angedeutet durch Doppelpfeile). b) GlyRα3_K- (467 bp)
und GlyRα3_L- (512 bp) Splicevarianten wurden nach der
Klonierung von PCR-Fragmenten in den PCR-II-TOPO-Vektor durch Insert-PCR
detektiert. c) "Alignments" von langen und kurzen cDNA-Sequenzen
(Exon 8–10) von humanem GlyRα3 [GLRA3_L (SEQ ID
Nr. 13), GLRA_K (SEQ ID Nr. 14)] und Ratten- GlyRα3 [Glra3_rn-L
(SEQ ID Nr. 15), Glra3_m_K (SEQ ID Nr. 16)]. Identische Nucleotide
in allen vier Sequenzen sind durch einen Stern gekennzeichnet. Der
45 bp-Stretch von Exon 9 (fettgedruckt und kursiv) fehlt in den
cDNA-Sequenzen von GLRA_K und Glra3_rn_K;
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3 mRNA-Expression
von GlyRα, GlyRβ und Gephyrin in den Neuronen
der Spiralganglien der Cochlea der adulten Ratte (> P21). a), b) Expression der mRNA
von GlyRα3 in Neuronen der Spiralganglien (SG, Pfeil) bei
verschiedenen Vergrößerungen unter Verwendung
der "whole-mount"-in-situ-Hybridisierung der Cochlea der adulten
Ratte (> P21). Der Überblick
(a) zeigt auch eine Markierung der äußeren Haarzellen
["outer hair cells" (OHC)]. c), d) die Expression der mRNA von GlyRβ in
Neuronen der Spiralganglien (SG, Pfeil). e), f) Expression der mRNA von
Gephyrin in Neuronen der Spiralganglien (SG, Pfeil). Höhere
Vergrößerungen zeigen die cytoplasmatische Färbung
der mRNA von GlyRα3 (b), der mRNA von GlyRβ (d),
und der mRNA von Gephyrin (f) in SG. Keine Signale wurden bei der
Hybridisierung mit den entsprechenden "Sinn"-Molekülen
detektiert (eingefügte Aufnahmen a bis f). Maßstabsbalken
in a), c), e) 200 μm, in b), d), f) 20 μm;
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4 Die
Expression der mRNA von GlyRα3, GlyRβ und Gephyrin
in dem adulten Organ von Corti (> P21).
a) GlyRα3-Transkripte wurden in den äußeren
Haarzellen (OHC, ausgefüllte Pfeile) durch "whole-mount"-in-situ-Hybridisierung
detektiert. Für die inneren Haarzellen ["inner hair cells" (IHC),
nicht ausgefüllte Pfeile] wurde kein Signal detektiert.
b) OHC (ausgefüllte Pfeile), nicht aber IHC (nicht ausgefüllte
Pfeile), zeigten ein Signal für GlyRβ-Transkripte
in der Cochlea der adulten Ratte. c) In IHC (nicht ausgefüllte
Pfeile) und OHC (ausgefüllte Pfeile) zeigte sich für
Gephyrin ein starkes Hybridisierungssignal. Kein Signal wurde nach
der Hybridisierung mit den entsprechenden "Sinn"-Molekülen detektiert
(eingefügte Aufnahmen). Maßstabsbalken 20 μm;
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5 GlyRα/GlyRα3-Proteinexpression
auf der Ebene der IHC. a), b) Unter Verwendung des monoklonalen
Antikörpers mAb4a, der sämtliche GlyRα-Untereinheiten
detektiert, wurde das GlyRα-Protein in Cryoschnitten der
Rattencochlea bei P8 unter den IHC (nicht ausgefüllte Pfeilspitzen)
detektiert, gezeigt für den apikalen als auch für
den mittelbasalen cochlearen Bogen. In diesem Stadium wurde auf
der Ebene der OHC kein GlyRα- Protein detektiert. c) bis e)
Unter Verwendung des polyklonalen GlyRα3-spezifischen Antikörpers
wurde auf der Ebene der IHC (*) in der "whole mount"-in-situ-Hybridisierung
der Cochlea der adulten Ratte GlyRα3-Protein detektiert [> P21) (c) e)]. Mit
einem Antikörper gegen das Neurofilament 200, einem Marker
für afferente Nervenfasern, wurde eine Coimmunmarkierung
durchgeführt (NG 200, ausgefüllte Pfeilspitze).
Die Proben wurden mit DAPI gegengefärbt, womit die Zellkerne
markiert werden. Maßstabsbalken in a), b) 20 μm,
in c) bis e) 50 μm;
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6 GlyRα3-Proteinexpression
auf der Ebene der OHC in dem adulten Organ von Corti (> P21). a) bis c) GlyRα3-Protein
(*) wurde in OHC (ausgefüllte Pfeile) durch "whole-mount"-Immunhistochemie
detektiert. Die Proben wurden mit Anti-Neurofilament 200 (NF 200,
ausgefüllte Pfeilspitze) coimmunmarkiert. NF 200 färbte
die Nervenfasern, die an den OHC enden. Die Zellkerne wurden mit
DAPI gegengefärbt. d) bis f) Höhere Vergrößerungen
von a) bis c). Auffällig ist die Lokalisierung des GlyRα3-Proteins (*)
in der Zellmembran der OHC (ausgefüllte Pfeile) gegenüber
den Enden der Nervenfasern (ausgefüllte Pfeilspitzen).
Maßstabsbalken in a) bis c) 50 μm, in d) bis f)
20 μm;
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7 Schematische
Darstellung der postulierten glycinergen Innervation der inneren
(IHC) und äußeren Haarzellen (OHC) nach dem Beginn
des Hörens. Die afferenten Dendriten (AF) der Neuronen der
spiralen Ganglien (SG) unterhalb der IHC werden von efferenten Fasern
des lateralen oliviocochlearen Bündels (EF-LOCF) kontaktiert,
welche axodendritische Synapsen bilden. GlyRα3 (Punkte)
wird von den SG in die afferenten Dentriten unterhalb der IHC transportiert,
wo das Protein detektiert wurde (vgl. 5). GlyRα3-Protein
wurde in den OHC detektiert (vgl. 6), welche
axosomatische Synapsen mit den afferenten Fasern des medialen oliviocochlearen (MOC)
Bündels (ES-MOC) bilden;
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8 Schematische
Darstellung der bei Tinnitus beobachteten erhöhten Expression
von BDNF und der erniedrigten Expression von Arg3.1/Arc in der Peripherie
der Cochlea (A), und der Korrektur durch Glycinrezeptor-Agonisten
("Glycin") oder GABA-Rezeptor-Agonisten ("GABA") (B).
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1. Material und Methoden
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1.1 Tiere
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In
den Untersuchungen wurden Wistar-Ratten (Charles River, Sulzfeld,
Deutschland) verwendet. Der Umgang mit und die Verwendung der Tiere und
das experimentelle Protokoll wurden von dem Tierschutzbeauftragten
und dem regionalen Komitee für Wissenschaftliche Tierversuche
in Tübingen begutachtet und genehmigt.
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1.2 Gewebepräparation
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Für
die RNA-Isolierung wurde die Cochlea kleingeschnitten und unmittelbar
anschließend in flüssigem Stickstoff eingefroren.
Für die Hybridisierung in situ und die Immunhistochmie
wurde die Cochlea isoliert und präpariert, wie zuvor beschrieben;
vgl. Knipper et al (2000), Thyroid hormone deficiency before
the onset of hearing causes irreversible damage to peripheral and
central auditory systems, J. Neurophysiol. 83: 3101–3112.
Kurz zusammengefasst, die Cochlea wurden durch die Injektion von
2% Paraformaldehyd/2% Saccharose (alle Chemikalien stammten von
SIGMA-Aldrich, München, Deutschland, wenn nicht anders
angegeben) in 50 mM phosphatgepufferter Saline (pH 7,4) in das runde
und ovale Fenster fixiert. Die Cochlea der Tiere, die älter
waren als P10, wurden nach der Fixierung für zehn Minuten
bis zwei Stunden in RBD ("rappid bone decalcifier", Eurobio, Les
Ulis Cedex, Frankreich) decalcifiziert. Nach der Injektion von 25%iger
Saccharose und 1 mM Proteaseinhibitor (Pefabloc; Roche Diagnostics,
Mannheim, Deutschland) in HEPES-Hanks-Lösung, wurde die
Cochlea in O.C.T.-Verbindung (Miles Laboratories, Elkhart, IN, USA)
eingebettet, mit 10 mM cryogeschnitten, auf SuperFrost/plus-Objekträger
"gemounted", für eine Stunde getrocknet und vor der Verwendung
bei –20°C gelagert. Für jedes Experiment
wurden zumindest drei Tiere des angegebenen Alters verwendet (n =
3).
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1.3 RT-PCR
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Mit
dem RNeasy Mini Kit (Qiagen, Hilden, Deutschland) wurde die Gesamt-RNA
aus der Rattencochlea extrahiert. Die reverse Transkription (RT) in
cDNA wurde unter Verwendung des "Sensiscript Reverse Transcription
Kits" (Qiagen, Hilden, Deutschland) und oligo-dT15-Primern
(Roche, Penzberg, Deutschland) gemäß der Anweisungen
der Herstellers durchgeführt. Für die Polymerase-Kettenreaktion
(PCR) wurden die folgenden Primer verwendet (die Größe
des PCR-Produktes ist in Klammern angegeben). Glra1, vorwärts:
5' CCTTCTGGATCAACATGGATGCTG 3' (SEQ ID Nr. 1), rückwärts:
5' CGCCTCTTCCTCTAAATCGAAGCAGT 3' (SEQ ID Nr. 2), (243 bp); Glra2,
vorwärts: 5' ATCCCTCGCAGACCCTATCT 3' (SEQ ID Nr. 3), rückwärts:
5' TAAACTGGGGCAAGGTGAGT 3' (SEQ ID Nr. 4), (553 bp); Glra3, vorwärts:
5' GGCTGAAGGACTCACTTTGC 3' (SEQ ID Nr. 5), rückwärts;
5' TGAATCGACTCTCCCTCACC 3' (SEQ ID Nr. 6) (Glra3-Primer wurden designed,
um mögliche Splicevarianten entsprechend den humanen GLRA3-Splicevarianten α3_L
und α3_K; α3_L: 513 bp, α3_K: 468 bp
zu detektieren); Glrb, vorwärts: 5' CGGGATCCATTCAAGAGACA
3' (SEQ ID Nr. 7), rückwärts: 5' GCTCGAGCCACAC-ATCCAGTGCCTT
3' (SEQ ID Nr. 8) (732 bp); Gephyrin, vorwärts: 5' CAAGGTGGCTAGAAGACATC
3' (SEQ ID Nr. 9), rückwärts: 5' ACCACTGGAAACTTATTAACTTC
3' (SEQ ID Nr. 10) (573 bp); β-Actin, vorwärts:
5' TGAGACCTTCAACACCCCAG 3' (SEQ ID Nr. 11), rückwärts:
5' CATCTGCTGGAAGGTGGACA 3' (SEQ ID Nr. 12) (655 bp). Destilliertes
Wasser diente als Negativkontrolle.
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Die
PCR wurde mit "PuReTaq Ready-To-Go" PCR-Beads (Amersham Biosciences,
Freiburg, Deutschland) durchgeführt. Das PCR-Programm bestand
aus einer anfänglichen Denaturierungsphase von 3 min bei
94°C, 35–40 Zyklen der Denaturierung bei 94°C
(30 sec), Anlagerung bei 58°C (30 sec), Extension bei 72°C
(90 sec) und einem finalen Syntheseschritt von 10 min bei 72°C.
Die resultierenden PCR-Produkte wurden auf Agarosegelen separiert und
mit Ethidiumbromid gefärbt. Die PCR-Produkte von GlyRα3,
GlyRβ und Gephyrin wurden sequenziert und mit den entsprechenden
Sequenzdaten aus GeneBank mittels BLAST verglichen (www.ncbi.nlm.nih.gov).
Die Bezeichnungen der GlyRα3-Exons beziehen sich auf das
automatische Gen-Bezeichnungssystem Ensembl (www.ensembl.org)
und unterscheiden sich von der ursprünglichen Beschreibung
von Nikolic et al. (1998), The human glycine receptor subunit
alpha3. Glra3 gene structure, chromosoal localization, and functional characterization
of alternative transcripts, J. Biol. Chem. 273: 19708–19714.
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1.4 Synthese der Ribosonde und Hybridisierung
in situ
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Für
die spezifischen Ribosonden wurden die PCR-Fragmente von GlyRα3_L
(513 bp) GlyRβ (732 bp) und Gephyrin (573 bp) in den pCR-II-Topo-Vektor (Invitrogen,
Karlsruhe, Deutschland) kloniert und für die Transkription
in vitro verwendet. Die komplementären Stränge
für die Sinn- und Gegensinnsonden wurden in Gegenwart von
Digoxigenin-markiertem Mix (DIG; Roche Diagnostics) entweder von
der SP6- oder der T7-Promotorstelle transkribiert.
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"Whole-mount"-in-situ-Hybridisierungen
mit GlyRα3L-, GlyRβ- und Gephyrin-Ribosonden erfolgte,
wie beschrieben; vgl. Engel et al. (2006), Two classes of
outer hair cells along the tonotopic axis of the cochlea, Neuroscience
143:837:849. Kurz, die Cochlea aus Ratten mit dem angegebenem
Alter wurden mit 2% Paraformaldehyd für 30 min fixiert, gefolgt
von einer Dehydrierung in 100% Methanol über Nacht bei –20°C.
Nach der Rehydrierung und dem Verdau mit Proteinase K (2 μg/ml)
bei 37°C für 3 min, wurden die Coch lea in 2% Paraformaldehyd
für 15 min post-fixiert. DIG-markierte Gegensinn- oder Sinn-Proben
wurden in Hybridisierungslösung verdünnt, die
25% Microarray-Hybridisierungspuffer (Amersham Biosciences, Freiburg,
Deutschland), 25% nucleasefreies Wasser und 50% Formamid enthielten.
Die Hybridisierung wurde über Nacht bei 55 °C
durchgeführt. Die nachfolgenden Waschund Detektionsschritte
wurden durchgeführt, wie beschrieben, vgl. Knipper
et al. (1999), Distinct thyroid hormone-dependent expression of
TrKB and p75NGFR in nonneuronal cells during the critical TH-dependent period
of the cochlea, J. Neurobiol. 38: 338–356; Knipper
et al. (2000, a. a. O.). Jede Hybridisierung erfolgte in
zumindest drei verschiedenen Tieren des angegebenen Alters.
-
1.5 Fluoreszenz-Immunhistochemie
-
Für
die Immunhistochemie wurden die Schnitte der Rattencochlea gefärbt,
und dargestellt, wie beschrieben; vgl. Knipper et al. (2000
a. a. O.) und Knipper et al. (1998), Thyroid hormone
affects Schwann cell and oligodendrocyte gene expression at the
glial transition zone of the VIIIth nerve prior to cochlea function,
Development 125: 3709–3718. Der Maus-monoklonale
Antikörper mAb4a, der gegen ein gemeinsames N-terminales
Epitop der GlyRα1-4-Untereinheiten gerichtet war, wurde
als Hybridomüberstand erhalten. Für die spezifische
Detektion der GlyRα3-Untereinheit wurde ein polyklonaler
Rattenantikörper (SIGMA-Aldrich) verwendet. Es wurden Maus-monoklonale
Antikörper gegen Gephyrin (BD Transduction Laboratories,
Heidelberg, Deutschland) und Neurofilament 200 (NF200; The Einding
Site, Heidelberg, Deutschland) verwendet. Primäre Antiseren
wurden mit Cy3- (Jackson ImmunoResearch Laboratories, West Grove,
PA, USA) oder Alexa488-konjugierten Sekundärantikörpern
(Molecular Probes, Leiden, Niederlande) visualisiert. Die Schnitte
wurden in Vectashield-Mounting-Medium, enthaltend DAPI-Zellkernfärbemittel
(Vector Laboratories, Burlingame, CA, USA), fixiert. Die Proben
wurden unter Verwendung eines Olympus AX70 Mikroskops fotogra fiert,
das mit einer Epifluoreszenz-Illumination und 40× (numerische
Apertur 1.0) oder 100× Ölimmersionsobjektiven
(numerische Apertur 1.35) ausgestattet war. Die Bilder wurden unter
Verwendung einer CCD Color View 12 Kamera und einem Imaging-System
Analysis (SIS, Münster, Deutschland) aufgenommen. Jede
Färbung wurde zumindest im Dreifachansatz in drei Tieren
des jeweiligen Alters und Genotyps durchgeführt. Die immunhistochemischen
Analysen erfolgten am postnatalen Tag 8 (P8) oder in der adulten
(> P21) Rattencochlea.
Für die "Whole-mount"-Immunhistochemie wurde die Präparation
und Fixierung der Cochlea durchgeführt, wie beschrieben
in Engel et al. (2006; a. a. O.), und es wurden
die wie oben beschriebenen Immunhistochemieprotokolle befolgt.
-
2. Ergebnisse
-
2.1 Amplifizierung der cDNA der Glycinrezeptoren und
des Ankerproteins Gephyrin in der Säugetiercochlea
-
Unter
der Verwendung von RT-PCR wurden die Transkripte von GlyRα3
(512 bp), GlyRβ (732 bp) und Gephyrin (573 bp) aus der
Rattencochlea bei P14 amplifiziert (1, P14). β-Actin
(655 bp) wurde als Haushaltsgen verwendet. Die GlyRα3-Primer wurden
so designed, dass diese mögliche Splicevarianten entsprechend
den Isoformen der Untereinheiten GLRA3 short (GlyRα3_K)
und GLRA3 long (GlyRα3_L) beim Menschen detektieren. Die RT-PCR
aus der adulten Cochlea (> P21)
ergab eine Doppelbande für die GlyRα3-Transkripte,
angezeigt durch Pfeile in 1 (> P21). Die Transkripte
von GlyRα1 und GlyRα2 konnten in keinem der analysierten
Stadien amplifiziert werden. Rückenmarks-cDNA (1,
sc P21) wurde als Positivkontrolle für GlyRα1-3,
GlyRβ, Gephyrin und β-Actin verwendet.
-
Die
zwei PCR-Produkte der GlyRα3-Doppelbande (2a)
wurden in den pCRII-TOPO-Vektor kloniert. Die Sequenzierung der
Insert-PCR-Produkte er gab zwei GlyRα3-Transkriptvarianten
(2b). Das längere Transkript, das aus
512 bp bestand (Glra3_rn_L), zeigte 99% Identität mit der
cDNA-Sequenz Glra3 der Ratte aus GeneBank (Zugriffsnummer: NM_053724).
Das kürzere Transkript, das aus 467 bp bestand (Glra3_rn_K),
trug eine 45 bp-Deletion zwischen den Nucleotiden 1120 und 1164
der Codierungssequenz (2c, fettgedruckt und kursiv). Die
Analyse der Nucleotidsequenzen Glra3 aus der Ratte und GLRA3 aus
dem Menschen mit dem „Ensembl automatic gene annotation"-System
ergab hochkonservierte Exon-Intron-Grenzen. Die 45 bp-Deletion in
Glra3_rn_K entspricht dem fehlenden Exon 9 (45 bp) der humanen cDNA-Sequenz
von GLRA3_K (2c, Exon 9). Die beiden aus
der Rattencochlea amplifizierten Glra3-Transkripte zeigten die Merkmale
der zuvor beschriebenen humanen GLRA3 kurzen (α3_K) und
langen (α3_L) Splicevarianten und werden deshalb im folgenden
Text als GlyRα3_K und GlyRα3_L bezeichnet. Sequenzdaten aus
dem GlyRβ- und Gephyrin-PCR-Fragmenten bestätigten
die Identität der amplifizierten Transkripte mit den entsprechenden
Sequenzen aus dem Ratten-ZNS in GeneBank (Glrb: NM_053296; Gephyrin: NM_022865,
Daten nicht gezeigt). Zusammenfassend ergeben die Ergebnisse aus
der RT-PCR, dass GlyRα3-, GlyRβ- und Gephyrin-Transkripte
in der Cochlea der adulten Ratte mit Beginn des Hörens (~P12)
exprimiert werden.
-
2.2 Lokalisierung der mRNA von Glycinrezeptoren und
Gephyrin durch In-situ-Hybridisierung
-
Um
die Lokalisierung der mRNA der GlyR-Untereinheit in der Rattencochlea
zu identifizieren, wurden Ribosonden hergestellt, die gegen GlyRα3_L-,
GlyRβ- und Gephyrin-Transkripte gerichtet waren, und es
wurde eine In-situ-Hybridisierung auf der adulten (> P21) Rattencochlea
durchgeführt. Da nach der Decalzifizierung auf Cryoschnitten
keine ausreichenden Signale erhalten wurden (Daten nicht gezeigt),
wurden "Whole-mount"-In-situ-Hybridisierungen durchgeführt.
In 3 wird ein Überblick über einen
einzelnen Cochlea-Bogen Signale von GlyRα3- (3a), GlyRβ- (3c)
und Gephyrin- Transkripten (3e) in
Neuronen der Spiralganglien (SG) gegeben. Eine höhere Vergrößerung
des Bereiches der SG zeigt eine cytoplasmatische Lokalisierung der
mRNA von GlyRα3 (3b), GlyRβ (3d) und Gephyrin (3f).
Die entsprechenden "Sinn"-Proben (3a–f,
eingesetzte Aufnahmen) zeigten kein Signal.
-
In 4 wurde
der Bereich der Haarzellen in der Cochlea der adulten Ratte bei
stärkerer Vergrößerung untersucht. Transkripte
von GlyRα3 (4a), GlyRβ (4b) und Gephyrin (4c)
wurden in den OHC identifiziert (ausgefüllte Pfeile). Während zusätzlich
auf der Ebene der IHC die mRNA von Gephyrin detektiert wurde (4c, nicht ausgefüllte Pfeile),
wurde in den IHC für die mRNA von GlyRα3 und GlyRβ kein
Hybridisierungssignal erhalten (4a,
b, nicht ausgefüllte Pfeile). Die entsprechenden "Sinn"-Sonden
ergaben kein Signal (eingefügte Aufnahmen in 4a–c). Vor dem Beginn des Hörens
wurde die mRNA von GlyRα3, GlyRβ und Gephyrin
in den inneren (ICH) nicht aber äußeren Haarzellen
(OHC) exprimiert (Daten nicht gezeigt).
-
2.3 Proteindetektion und -lokalisierung
der Glycinrezeptoren und von Gephyrin in der Cochlea der Ratte
-
In
dem nächsten Schritt sollten die GlyRα3- und Gephyrin-Proteine
unter Verwendung eines monoklonalen Antikörpers mAb4a,
der alle GlyRα-Untereinheiten erkennt, eines für
GlyRα3-spezifischen polyklonalen Antikörpers und
eines monoklonalen Antikörpers gegen das Ankerprotein Gephyrin
auf Haarzellebene visualisiert werden.
-
Vor
dem Beginn des Hörens detektierte mAb4a, der gegen ein
gemeinsames N-terminales Epitop der GlyRα1-4-Untereinheiten
gerichtet ist, schwache punktartige Signale unter den inneren Haarzellen,
wie gezeigt für den apikalen und mittelbasalen Bogen der
Cochlea in Schnitten der Ratte bei P8 (5a,
b). Bei P8 konnte für das GlyRα-Protein auf der
Ebene der äußeren Haarzellen kein Protein detektiert
werden. Im Gegensatz zu GlyRα konnten in Cryoschnitten
Gephyrin-Polypeptide nicht detektiert werden, weder in decalcifiziertem
noch in nicht-decalcifiziertem Gewebe. Parallel hierzu wurde zur
Umgehung der Decalcifizierung der Proben und zur Verbesserung der
Proteindetektion "Whole-mount"-Immunhistochemie verwendet. Dabei
wurden lediglich für den GlyRα3-spezifischen Antikörper positive
Ergebnisse erhalten. Für das GlyRα3-Protein wurde
auf der Ebene der IHC (5c, Stern),
in der Nähe der NF200-immunpositiven Nervenprojektionen
(5c, ausgefüllte Pfeilspitze)
ein punktähnliches Färbemuster beobachtet, gezeigt
für die Cochlea der Ratte > P21. Die Position der GlyRα3-Färbung
ist im Vergleich zu den IHC-Kernen dargestellt, gefärbt
mit DAPI (5d) oder im Vergleich zur
Färbung der Kerne und NF200 als Dreifachfärbung (5e).
-
Die
Expression von GlyRα3-Protein auf OHC der Ratte > P21 ist in 6 dargestellt.
Für das GlyRα3-Polypeotid (Stern) wurde in den
drei Ebenen der OHC ein Signal detektiert (6a,
d, ausgefüllte Pfeile). Die Kerne der OHC wurden mit DAPI
markiert (6b, c, e, f) und die Nervenfasern,
die an den OHC enden, wurden mit einem Antikörper gegen NF200
gefärbt (6a–f, ausgefüllte
Pfeilspitze). Typische Cluster von GlyRα3-Protein waren
an der Zellmembran von OHC in direkter Nähe zu NF200-positiven
Nervenenden lokalisiert (6c, d, f).
Bei einem Weglassen der primären Antikörper ergaben sich
keine Signale (Daten nicht gezeigt).
-
3 Fazit
-
In
der vorliegenden Untersuchung wurden Glycinrezeptoren und das Ankerprotein
Gephyrin in der Cochlea der Ratte detektiert und deren Verteilung durch
"Whole-mount"-In-situ-Hybridisierung und Fluoreszenz-Immunhistochemie
analysiert. Es wurde demonstriert, dass mittels Glycinrezeptor-Agonisten Phantomphänomene,
wie akuter Tinnitus, ursächlich behandelt werden können.
-
3.1 Glycinrezeptor-Isoformen, die in der
Cochlea detektiert wurden
-
Die
durchgeführten Untersuchungen zeigten eine Expression von
Transkripten von GlyRα3, GlyRβ und Gephyrin in
der Cochlea der Ratte. Hierzu im Gegensatz wurden Transkripte von
GlyRα1 und GlyRα2 weder in den analysierten postnatalen
noch in reifen Stadien detektiert (siehe 1).
-
Unter
den speziellen Varianten der GlyRα-Untereinheiten war die
Funktion der GlyRα3-Untereinheit lange Zeit unklar. GlyRα3-Transkripte
wurden in dem Riechkolben und Cerebellum, dem auditorischen Hirnstamm
und dem dorsalen Horn des Rückenmarks von adulten Nagetieren
detektiert. Zunehmende Hinweise für eine Expression von
GlyRα3 in Gehirnregionen, die mit der sensorischen Verarbeitung
assoziiert sind, deuten auf eine entscheidende Rolle von GlyRα3
bei der sensorischen Integration hin. Dieses Verständnis
wird unterstützt durch die Detektion von GlyRα3
im dorsalen Horn des Rückenmarks, wo es als ein Schlüsselfaktor
in der Transmission von Schmerzsignalen aus der Peripherie in das Gehirn
identifiziert wurde. Auf der Ebene des auditorischen Hirnstammes
spielen Glycinrezeptoren in der zentralen sensorischen Verarbeitung
von akustischen Signalen, einschließlich der lateralen
Inhibition und Lokalisierung von Geräuschquellen eine entscheidende
Rolle. Die Identifizierung von GlyRα3 in der Cochlea der
Ratte unterstützt zusätzlich das Konzept von GlyRα3
als die "sensorische" Variante der GlyRα-Untereinheit.
Bis heute wird nicht verstanden, wie die spezifischen Kinetiken
von GlyRα3 mit dieser Rolle in Zusammenhang stehen. Rekombinante GlyRα3-Kanäle
zeigen schnelle Kinetiken, haben jedoch eine niedrigere Affinität
für Glycin als GlyRα1-Kanäle.
-
Die
Erfinder detektierten GlyRα3-Splicevarianten in der Cochlea
der Ratte, die den humanen Isoformen GlyRα3_K und GlyRα3_L
entsprachen (siehe 2). Bislang wurde
alterantives Splicing der mRNA von GlyRα3 nur für
den Menschen und die Maus beschrieben. Bei der kurzen GlyRα3_K-Isoform
fehlt der 45 bp-Stretch von Exon 9, was einem Verlust von 15 Aminosäuren
in dem Kanalprotein entspricht. Rekombinante Innenkanäle
der beiden Splicevarianten zeigen unterschiedliche Kanalkinetiken. Die
lange GlyRα3_L-Isoform zeigt eine höhere Affinität
für Glycin und desensitiviert wesentlich langsamer und
in einem geringeren Ausmaß als GlyRα3_K. Das Screening
von Zellen der Cochlea nach einer möglichen differentiellen
subzellulären Verteilung der GlyRα3-Isoformen
könnte nützlich sein, um die Rolle dieser Splicevarianten
weiter aufzuklären. Außerdem könnten
elektrophysiologische Aufnahmen von nativen Glycinrezeptoren in
isolierten Haarzellen und von rekombinanten cochlearen GlyRα3_K
und GlyRα3_L-Kanälen zur Charakterisierung der
Kanaleigenschaften von Glycinrezeptor-Isoformen in der Cochlea und
für das Verständnis von deren spezifischen Rollen
beim Hören hilfreich sein.
-
Zusätzlich
zu der Liganden-bindenden GlyRα3-Untereinheit wurden GlyRβ-Transkripte
in der Cochlea der Ratte durch RT-PCR und In-situ-Hybridisierung
detektiert. Bis heute ist unklar, ob native GlyRα3-Kanäle α3-Homopentamere
oder α3β-Heteropentamere ausbilden. Weitere Untersuchungen sind
erforderlich, um die molekulare Zusammensetzung der Glycinrezeptoren
in der Cochlea aufzuklären. Vermutlich verankert Gephyrin über
eine Bindung an die β-Untereinheit die Glycinrezeptoren
der Cochlea in dem Cytoskelett und ist entscheidend für die
postsynaptische Clusterung von Glycinrezeptoren, wie dies für
das zentrale Nervensystem und die Retina bereits beschrieben wurde.
Dies wird durch die Beobachtung unterstützt, dass GlyRα3-Protein
in immunhistochemischen Färbungen der unreifen Cochlea
der Ratte Cluster bildet. Die gleiche Verteilung der mRNA von GlyRα3,
GlyRβ und Gephyrin in OHC und SG-Neuronen, die die Erfinder
dokumentieren (3, 4), stützt
die Möglichkeit von α3β-Heteropentameren
in der Cochlea der Ratte (siehe auch weiter unten).
-
In
den inneren Haarzellen des reifen Innenohrs wurde jedoch nur die
mRNA von Gephyrin durch "Whole-mount"-In-situ-Hybridisierung detektiert,
wo hingegen kein Signal für die mRNA von GlyRα3
und GlyRβ detektiert wurde (siehe 4c).
Die Expression von Gephyrin in Bereichen, die weitgehend keine glycinergen
Synapsen aufweisen, wird bereits für das ZNS und die Retina
von Nagetieren beschrieben. Es gibt zunehmende Hinweise darauf,
dass Gephyrin diesen Bereichen in die postsynaptische Clusterbildung
von GABAA-Rezeptoren in involviert ist.
Während es notwendig ist, die Expression von Gephyrin-Transkripten
in IHC in größerem Detail zu untersuchen, ist
es von erheblichem Interesse, eine Rolle von Gephyrin als ein Ankerprotein
für einen IHC-spezifischen Ionenkanal in Betracht zu ziehen.
-
3.2 Glycinrezeptoren in den peripheren
sensorischen Organen: Retina und Cochlea
-
In
den letzten Jahren gab es zunehmend Hinweise darauf, dass Glycinrezeptoren
in die sensorische Integration in dem zentralen Nervensystem (ZNS)
involviert sind. Außerdem stärkt die Detektion und
Charakterisierung von Glycinrezeptoren in der Retina die Hypothese,
dass glycinerge Neurotransmission auch in die periphere sensorische
Informationsverarbeitung involviert sein könnte.
-
In
der Retina von Nagetieren wurden Transkripte von GlyRα1-4,
GlyRβ und Gephyrin in spezifischen retinalen Zelltypen
sowohl auf der Ebene der mRNA als auch der Proteinebene detektiert,
was darauf hindeutet, dass glycinerge Ströme bei der Verarbeitung
von visueller Information in der äußeren Retina
eine Rolle spielen. Die Detektion von Glycinrezeptoren in der Cochlea
stützt das Konzept einer modulatorischen Rolle von glycinerger
Neurotransmission in den peripheren sensorischen Organen.
-
3.3 Glycinrezeptoren in der Cochlea: Zielmoleküle
für efferente Innervation
-
Die
Verteilung von GlyR-mRNA und -Protein in der Cochlea lassen die
Schlussfolgerung zu, dass es sich bei den inhibitorischen Glycinrezeptoren
und Gephyrin um Zielmoleküle des efferenten oliviocochlearen
Bündels handelt.
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Laterales
oliviocochleares (LOC) Bündel: Das efferente System LOC
moduliert auditorische Nervenerregbarkeit und balanciert interaurale
Sensitivität. ACh, GABA, Dopamin und CGRP wurden als Transmitter
des LOC-Systems identifiziert. Vor dem Beginn des Hörens
werden IHC anfänglich von oliviocochlearen efferenten Fasern
kontaktiert. In der adulten Cochlea kontaktieren diese efferenten
Fasern direkt OHC und bilden unterhalb der IHC axosomatische Synapsen
mit den afferenten Dendriten. Deshalb wird angenommen, dass die
mutmaßlichen inhibitorischen Rezeptoren von efferenten
Transmittern zum Zeitpunkt der Bildung von axosomatischen Synapsen
lokalisiert werden. Es wird vermutet, dass diese Rezeptoren nach
dem Beginn des Hörens in den Neuronen der Spiralganglien
und afferenten Dendriten lokalisiert sind.
-
Entsprechend
identifizierten die Erfinder Transkripte von GlyRα3, GlyRβ und
Gephyrin in SG-Neuronen der adulten Cochlea (siehe 3)
und detektierten GlyRα3-Protein auf der Ebene der IHC von
Neurofilament-positiven mutmaßlichen afferenten Fasern
(siehe 5). Des Weiteren wurde vor dem Beginn des Hörens
GlyRα3-Protein an der Basis der IHC lokalisiert. Das punktähnliche
Färbemuster deutete nicht nur auf die charakteristischen GlyR-Cluster
in der Zellmembran hin, es erinnert auch die Lokalisierung des SK2-Kanalproteins
in IHC zum gleichen Zeitpunkt. Für SK2-Proteine wird angenommen,
dass diese efferente Kontrollen, die durch nicotinische, cholinerge
Rezeptoren (AChα, α10) vermittelt werden, in diesem
frühen Entwicklungsstadium an IHC weiterleiten.
-
Die
Erfinder haben erkannt, dass der Glycinrezeptor in der Cochlea von
großem klinischen und wissenschaftlichen Interesse ist.
Konkret wurde he rausgefunden, dass Phantomphänomene, wie
akuter Tinnitus und Phantomschmerz, durch die Stimulierung der Glycinrezeptoren
in der Cochlea mittels Glycinrezeptor-Agonisten behandelbar sind.
-
Mediales
oliviocochleares (MOC-) Bündel: Es ist möglich,
dass inhibitorische GlyR in OHC in die efferente Signalgebung des
MOC-Bündels involviert sind. Nach dem Beginn des Hörens
kontaktieren Nervenfasern des MOC-Systems das basolaterale Ende von
OHC mit axosomatischen Synapsen. Das MOC-Bündel arbeitet
als Geräusche-evozierte Rückkopplungsschleife,
die den Beitrag der OHC zur cochlearen Amplifizierung reduziert
und das Innenrohr gegenüber einem akustischen Trauma schützt. Bislang
wurden ACh und GABA als inhibitorische Transmitter des MOC-Systems
identifiziert. Die Bindung von ACh an den nicotinischen α9-ACh-Rezeptor
(nAChR) der basolateralen Enden von OHC führt zu einem
Einstrom von Ca++-Ionen, wodurch Ca++-aktivierte SK2-K+-Kanäle
geöffnet werden. Der hyperpolarisierende K+-Ausstrom
verursacht einen inhibitorischen postsynaptischen Strom (IPSC),
der die OHC-Elektromotilität reduziert. In den letzten
Jahren gab es zunehmend Hinweise darauf, dass GABA ein weiterer
Transmitter des MOC-Systems ist. α- und β-Untereinheiten
des GABAA-Rezeptors wurden an dem basolateralen
Ende von isolierten OHC detektiert. Gesamtzellaufnahmen von isolierten
OHC zeigten eine Hyperpolarisierung und Elongation von OHC nach
der Verabreichung von GABA. Diese Effekte konnten durch den GABAA-Rezeptor-Antagonist Picrotoxin blockiert
werden.
-
In
den Untersuchungen konnten die Erfinder Transkripte von GlyRα3,
GlyRβ und Gephyrin an OHC durch "Whole mount"-In-situ-Hybridisierung
detektieren (siehe 4). Außerdem konnte GlyRα3-Protein
in allen drei Ebenen der OHC detektiert werden (siehe 6).
Diese Befunde zeigen, dass inhibitorische Glycinrezeptoren in OHC
Zielmoleküle des efferenten MOC-Systems darstellen (7,
EF-MOC) und eine Protektion des Innenohrs gegenüber akustischer Überexponierung
bewirken. Dies wird unterstützt durch die Effekte von Strychnin, dem
kompetitiven Agonisten des inhibitorischen Glycinrezeptors. Eines
der prodromalen Symptome einer Strychninvergiftung ist Hyperacusis.
Es war bislang jedoch nicht bekannt, ob dieses Phänomen
auf eine zentrale oder periphere Enthemmung oder aus beides zurückzuführen
ist. Die Beobachtungen der Erfinder zeigen, dass der inhibitorische
Glycinrezeptor für eine Protektion gegenüber akustischer Überexposition
(mit-)verantwortlich ist. Eine chronische lokale Verabreichung von
Strychnin in das Innenohr von Meerschweinchen unterbricht die efferente
Aktivität und führt zu einer permanenten Verschiebung des
Schwellenwertes für hohe Frequenzen nach einem akustischen
Trauma. Gegenwärtig werden diese Beobachtungen dem Strychnin
zugerechnet, das als ein Antagonist auf den α9-nAChR wirkt.
Außerdem weisen kürzliche Befunde auf eine neue AChRα9-vermittelte
Strychnin-sensitive Komponente der efferenten Aktivität
auf der Ebene der OHC infolge von hochfrequenten akustischen Stimuli
hin. Die Detektion von GlyR im Innenohr liefert jedoch einen neuen
Baustein für die Interpretation der Strychnin-Intoxikation
und weist darauf hin, dass auch Glycinrezeptoren zu den beobachteten
Effekten von Strychnin zusätzlich zu α9-nAChR
in der Cochlea beitragen.
-
3.4 Behandlung von Phantomphänomenen
durch Glycinrezeptor-Agonisten und GABA-Rezeptor-Agonisten
-
Die
Autoren der
WO 2006/079476 zeigten eine
direkte Korrelation der veränderten erhöhten Expression
von BDNF in der Peripherie der Cochlea mit der Induktion von Tinnitus.
Mit der erhöhten Expression von BDNF in der Peripherie
der Cochlea geht eine Herunterregulation des cortikalen Plastizitätsgens
Arg3.1/Arc einher; vgl.
Tan et al. (2007), Tinnitus behavior
and hearing function correlate with the reciprocal expression patterns
of BDNF and Arg3.1/arc in auditory neurons following acoustic trauma,
Neuroscience 145(2): 715–726.
-
Sowohl
die Heraufregulation von BDNF in der Cochlea, als auch die Herunterregulation
von Arg3.1/Arc im auditorischen Cortex sind direkt mit im Tiermodell
induziertem Tinnitus korrelierbar; vgl. Panford-Walsh et
al. (2007), eingereicht.
-
Beide
Phänomene der Expressionsverschiebung der Gene BDNF und
Arg3.1/Arc in der Cochlea und dem auditorischen Cortex, wie auch
das Tinnitusverhalten selbst sind durch die Aktivierung einer inhibitorisch
wirkenden efferenten Projektion, die axodendritisch auf den afferenten
Hörnerven der inneren Haarzelle projiziert, blockierbar;
vgl.
WO 2006/079476 .
-
Die
Erfinder konnten nun einen völlig neuen inhibitorischen
Transmitter, nämlich Glycin, im Innenohr entdecken. So
konnten konkret die Glycinrezeptoren GlyRα3, GlyRβ und
das Ankerprotein Gephyrin in der adulten Cochlea unterhalb der IHC
und in OHCs detektiert werden.
-
Der
Expressionslokus der Glycinrezeptoren unterhalb der inneren Haarzellen
(IHC) zeigt, dass ganz analog zum GABAergen Feedback-Loop Glycin von
Efferenzen des medialen oberen Olivenkomplexes (MOC) im Stammhirn
ausgeschüttet wird (8B) und
typischerweise inhibitorisch auf die Afferenzen der IHCs wirkt.
Zum gleichen Rezeptortyp der "Gruppe I"- oder "Cys-Loop"-Familie
wie die GABA Rezeptoren gehörend, führt die Aktivierung des
Glycinrezeptors über den Einstrom von Cl-Anionen zur Hypopolarisierung
des Neuriten. Dies führt zur einer konstanten tonischen
Inhibition des afferenten Hörnerven, ein offenbar wesentlicher
Parameter für die Balance der Nervaktivität zentraler
auditorischer Projektionen.
-
Eine
durch ein tinnitusinduzierendes Trauma bedingte Exzitocytose (zuviel
Glutamat) oder eine Dislokation des inhibierenden "balancierenden"
efferenten Inputs, führt zu der bereits beschriebenen Hyperpolarisierung
des Hörnerven bzw. zur Erhöhung des BDNF-Spiegels
in Spiralganglien.
-
Die
Erhöhung der BDNF-Expression stellt nach Erkenntnissen
der Erfinder den primären Trigger zur Induktion von Tinnitus
dar, der über den pathologischen Transport des BDNF-Proteins
im Hörnerven zur ersten Synapse im Stammhirn die Brücke zur
pathophysiologischen Veränderung der Nerv-Aktivität
im zentralen auditorischen System schlägt. BDNF wirkt in
Abhängigkeit von der Zeit und Dauer und Menge des freigesetzten
Peptids auf die ersten Postsynapsen der ersten zentralen auditorischen Schaltstation
im Stammhirn, die Synapsen im ventralen und dorsalen Nucleus Cochlearis.
Hier kann die Tinnitusbegleitende Erhöhung von BDNF in
den Spiralganglien direkt an der Erhöhung der Aktivität
im dorsalen und ventralen Nucleus Cochlearis und im inferioren Colliculus
beteiligt sein, die offenbar über eine nachweisbare Erhöhung
inhibitorischer Transmitter, wie GABA, die nachfolgende Reduktion
von Arg3.1/Arc im auditorischen Cortex bedingt. Damit einher geht
eine Reduktion von Feldpotentialen im auditorischen Cortex, ein
Hinweis auf einen reduzierten thalamo-cortikalen Input; vgl. 8A.
-
Eine
Reduktion von Arg3.1/Arc im auditorischen Cortex könnte
unmittelbar die bereits in verschiedenen Studien mit Tinnitus im
Mensch und Tier nachgewiesene Hyperpolarisierung – oder
Exzitocytose cortikaler Neurone erklären. Exzitocytose
cortikaler Neurone ist seit langer Zeit als die Ursache für cortikalen
Reorganisatiosprozesse postuliert werden, die letztlich zu Phantomwahrnehmungen
führen. In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass eine Hochregulation
von Arg3.1/Arc-Proteinen in neuronalen Postsynapsen zu einem reduzierten
exzitatorischen postsynaptischen Potential (EPSP), eine Herunterregulation
umgekehrt zur einem erhöhten EPSP führt. D. h.
das Gesamtmodel einer Erhöhung von BDNF im Hörnerven
nach der Tinnitusinduktion kann direkt Phänomene erklären,
die seit langer Zeit bekanntermaßen in Mensch und Tier
korreliert mit Tinnitus auftreten.
-
Danach
sollte jegliche Korrektur einer pathologischen Erhöhung
von BDNF in Spiralganglien therapeutisch wirksam sein. GABA-Rezeptor-Agonisten würden
in diesem Modell wirksam sein wie Glycin-Rezeptor Agonisten.
-
Glycinrezeptor-Agonisten
korrigieren tatsächlich wie GABA-Rezeptor-Agonisten eine
pathologischen Erhöhung des BDNF Spiegel. Wie in 8B skizziert, korrigieren Glycinrezeptor-Agonisten
genau wie GABA-Agonisten die Reduktion der cortikalen Expression
von Arg3.1/Arc und wirken damit einer pathophysiologischen Reorganisation
cortikaler Projektionen und Tinnitus entgegen; vgl. 8B.
-
Zusammenfassend:
Einer Tinnitus begleitenden akuten Erhöhung der BDNF-Spiegel
in der Cochlea kann über Agonisten eines inhibitorisch
wirkenden Inputs, wie GABA-Rezeptor-Agonisten und Glycinrezeptor-Agonisten,
auf den Hörnerven direkt und lokal appliziert, begegnet
werden. Eine kurative Vermeidung einer Erhöhung von BDNF
in dem Hörnerven führt nach Erkenntnissen der
Erfinder zu einer Vermeidung einer pathophysiologischen Reorganisation
cortikaler Projektionen, die sich im Tiermodell durch eine Reduktion
der Arg3.1/Arc-Expression in cortikalen Neuronen mit erhöhtem
EPSP wiederspiegelt.
-
Es folgt ein
Sequenzprotokoll nach WIPO St. 25.
Dieses kann von der
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-
ZITATE ENTHALTEN IN DER BESCHREIBUNG
-
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-
Zitierte Patentliteratur
-
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