Orthodontischer Bogen aus gesplitterter Formgedächtnis-Legierung
Die vorliegende Erfindung betrifft einen orthodontischen Bogen zum Einsatz in der Kieferorthopädie zur Korrektur von Zahnfehlstellungen aufweisend einen Draht oder ein Drahtstück aus Formgedächtnislegierung. Die Erfindung betrifft gleichfalls ein Verfahren zur Herstellung eines Drahtstückes für einen solchen orthodontischen Bogen.
Ganz allgemein „erinnern" sich Formgedächtnis (FG) -Werkstoffe an ihre ursprüngliche Form und nehmen diese wieder an, wenn sie bei tiefer Temperatur (Martensit) verformt wurden und später eine Erwärmung in eine austenitische Hochtemperaturphase folgt. Derartige Werkstoffe zeigen außerdem häufig ein superelastisches Verhalten. Diese Eigenschaft ergibt sich daraus, dass innerhalb eines bestimmten Temperaturintervalls oberhalb einer charakteristischen Vorspannung von etwa einigen hundert MPa in der Spannungs-Dehnungs (Hysterese) Kurve ein Plateau auftritt. In diesem Dehnungsbereich wandelt sich der Austenit in Martensit um. Spannungsinduzierter Martensit kann sich entsprechend der angelegten Spannung entzwillingen und reagiert damit innerhalb des Plateaus auf eine Deformation des Materials mit einer konstanten Gegenkraft.
Bauteile aus Formgedächtnislegierungen sind insbesondere deswegen so attraktiv, weil sie innerhalb gewisser Grenzen superelastische Eigenschaften aufweisen. Gerade in der Kieferorthopädie ist diese Eigenschaft erstrebenswert, wo zur Korrektur von Zahnfehlstellungen konstante Kräfte von Vorteil sind.
Bislang sind für diesen Einsatz Volldrähte aus Formgedächtnislegierung hinlänglich bekannt. Diese Drähte aus biokompatiblen Legierungen, insbesondere aus NiTi, werden bevorzugt für die oben genannten orthodontische Zwecke verwendet.
Es hat sich allerdings gezeigt, dass im Biegeversuch und damit in der klinischen Anwendung das aus Zugversuchen bekannte und für den Einsatz entscheidende konstante Kraftplateau sich nicht ausbildet. Stattdessen wird ein überlagerter linear-elastischer Beitrag beobachtet, der speziell mit abnehmendem Drahtdurchmesser eine signifikante Bedeutung bekommt. Der Grund für dieses Verhalten liegt darin, dass der innere, die neutrale „Faser" umfassende Bereich bei einer Biegung des Drahtes die zum Erreichen des superelastischen Plateaus nötige Spannung nicht erreicht. Somit ergibt sich durch die unterschiedliche Biegebelastung der einzelnen Fasern eine Überlagerung von mehreren nichtlinearen Be- und Entlastungskurven, womit die für die kieferorthopädische Behandlung erwünschte Kraftkonstanz respektive Biegemomentkonstanz der orthodontischen Bögen nicht erzielt werden kann. Es lassen sich also auf diese Art kaum Drähte mit superelastischem Verhalten realisieren, die ein therapeutisch wünschenswertes konstantes Biegekraftplateau bei Entlastung besitzen.
Aufgabe der Erfindung ist es nunmehr, einen orthodontischen Bogen aufweisend einen Draht für mit derartigen Eigenschaften zu schaffen, wobei sich der Draht zumindest in Stücken einer begrenzten Länge einfach und kostengünstig herstellen lässt und wobei der Draht oder das Drahtstück die für die genannte Anwendung in der Kieferorthopädie gewünschte Superelastizität aufweist. Zudem ist es die Aufgabe der Erfindung, ein Verfahren zur Herstellung eines solchen Drahtes zu schaffen, wobei der Draht entsprechend der Anwendung in der Kieferorthopädie in entsprechenden Stücken zumindest begrenzter Länge hergestellt werden kann.
Diese Aufgaben werden durch den orthodontischen Bogen mit den kennzeichnenden Merkmalen des Anspruch 1 und das Verfahren nach Anspruch 14 gelöst. Merkmale besonderer Ausführungsformen der Erfindung sind in den jeweiligen Unteransprüchen genannt.
Ein wesentlicher Grundgedanke der Erfindung liegt darin, sich für die Erzielung der Federwirkung des orthodontischen Bogens eines hohlen Drahtes oder Drahtstückes zu bedienen, dessen Wandung verhältnismäßig dünn ist und aus einer Legierung mit Formgedächtnis besteht. Dabei kann der orthodontische Bogen vollständig von dem Hohldraht gebildet sein oder ein aus derartigem Hohldraht gebogenes Teilstück enthalten. Es sei auch ausdrücklich erwähnt, dass das Merkmal „Hohldraht" nicht ausschließt, sein Inneres mit einem Material zu füllen, das sich vom Material der Wandung unterscheidet. Damit wird aus dem Hohldraht gewissermaßen ein „Kompositdraht".
Erfindungswesentlich ist weiterhin, die dünne Wandung des Hohldrahtes so auszubilden, dass die superelastische Eigenschaft gerade bei einer Biegung erreicht wird. So wird wegen der dünnen Wandung der vom Kern herrührende Überlagerungseffekt auf das Kraftplateau nicht nur bei Zug, sondern auch beim Biegen und Verdrehen wesentlich reduziert. Unter Einsatz der Erfindung kann beim Biegen respektive bei der kieferorthopädischen Behandlung das erwünschte konstante superelastische Kraftplateau deutlich besser angenähert werden, als es bei einem Volldraht der Fall ist. Dies gilt umso mehr, je dünner die Wandung des Hohldrahtes ist. Dabei liegen die Außenabmessungen der für die genannten Zwecke einsetzbaren Drahtstücke etwa zwischen 0, 1 mm und 2 mm, wobei der Bereich zwischen 0.2 mm und 1 mm zu bevorzugen ist. Die Wandstärke der relativ dünnwandigen Wandung liegt erfindungsgemäß etwa zwischen 1 μm und 100 μm, insbesondere zwischen 5 μm und 50 μm. Es ist besonders vorteilhaft, die Wandung aus NiTi oder NiTiX zu fertigen, wobei X insbesondere Cu, Pd, Hf, Zr, Nb oder Fe ist.
Um die bei derart dünnwandigen Hohldrähten bestehende Gefahr des Knickens zu minimieren, die gerade den Einsatz für kieferorthopädische Anwendungen stark beeinträchtigt, ist es vorteilhaft, den Hohldraht mit einer Füllung (Seele) aus einem Material zu versehen, wobei der Biegeelastizitätsmodul der Seele generell kleiner, insbesondere um mindestens den Faktor 10 kleiner, als der Biegeelastizitätsmodul des superelastischen Materials der Wandung zu wählen ist.
Weiterhin ist es vorteilhaft, wenn die Seele von der Wandung form- und/oder kraftschlüssig umgeben ist. So wird ein für die genannten Einsatzgebiete
geeigneter Materialverbund in der Art eines Kompositdrahtes der Stärke zwischen etwa 0,01 mm und 5 mm geschaffen. Die innerhalb der Wandung befindliche Seele hat einen verhältnismäßig geringes Elastizitätsmodul bei Biegung zwischen etwa 1 MPa und 80 GPa. Dabei kommt es auf die Geometrie des Querschnittes der Wandung nicht an. Dieser kann rund, oval oder eckig sein. Solche Komposit-Drähte können beispielsweise eine NiTi-Wandung und einen weichen Polymerkern haben.
Die Vorteile der Erfindung resultieren daraus, dass der erfindungsgemäße Draht insbesondere bei einer Biegung in einem in der Kieferorthopädie üblichen Maß, das Plateau erreicht, innerhalb dessen die angestrebten superelastischen Eigenschaften auftreten. Dabei kann durch optimierte Bedingungen eine superelastische Hysterese bei Körpertemperatur von 37°C erreicht werden. Zudem zeichnet sich der einen solchen Hohldraht aufweisende orthodontische Bogen insbesondere im Fall der Kompositdrähte durch eine hohe Knickfestigkeit aus und lässt sich damit in nahezu beliebige Gestalt biegen. So können orthodontische Bögen mit der erwünschten Kraft- und Biegemomentkonstanz geformt werden. Die Erfindung trägt so zur Steigerung des Erfolges insbesondere kieferorthopädischer Behandlungen bei, wobei jedoch die Einsatzgebiete des Drahtes respektive der Drahtstückchen nahezu unbegrenzt sind. Diese liegen gerade wegen der guten Verträglichkeit des bevorzugten Werkstoffes NiTi insbesondere auch in der Medizin, wo sie als „mitwachsende" Stabilisatoren oder Verbindungselemente eingesetzt werden können.
Ein anderer wesentlicher Gedanke der Erfindung liegt darin, die Wandung aus Formgedächtnislegierung in einem Sputtervorgang herzustellen. Zur Herstellung der erfindungsgemäßen Komposit-Drähte unter Einsatz der Sputtertechnik sind zwei Ansätze denkbar: Ein Ansatz liegt in dem planaren Opferschichtverfahren, wie es in DE 199 48 199 A1 beschrieben wird. Die Abscheidung gesputterter NiTi Schichten auf den darin offenbarten Polymerfolien hat jedoch den Nachteil, dass dieses Verfahren keine Rundumbeschichtung vorsieht.
Im Gegensatz dazu ist die unmittelbare Rundumbeschichtung von entsprechend profilierten polymeren Substraten mit einer Schicht aus
Formgedächtnislegierung möglich. Bei diesem Verfahren ist jedoch auf die Temperaturbeständigkeit der verwendeten Polymere zu achten.
Um die genannten Nachteile zu vermeiden, wird erfindungsgemäß ein Kern aus Opfermaterial, beispielsweise eine Kapillare oder ein Rohr aus Kupfer oder Messing, mit Formgedächtnislegierung mit superelastischen Eigenschaften, insbesondere mit NiTi, rundum beschichtet. Wie nachfolgend beschrieben, wird der Kern oder die Seele aus dem unerwünschten Fremdmaterial im Anschluss an das Sputtern und im Anschluss die eventuell notwendige Glühbehandlung in einem Säurebad aufgelöst und durch einen weichen Polymerkern ersetzt. Dieser kann beispielsweise in die Bohrung des Drahtes eingegossen oder eingezogen werden. Es ist dabei von Vorteil, wenn die Wandung des Drahtstückes die Seele unmittelbar und insbesondere kraftschlüssig umgibt. Als Materialien für die Seele bieten sich Nylon, Perlon, Silikon, Polyimid, Epoxydharz oder zahnmedizinischer Kleber an. Es ist auch möglich, die Seele aus monofilen und/oder multifilen Polymerfäden zu fertigen, die ihrerseits auch eingegossen werden können, so dass die Seele selbst einen Materialverbund bildet.
Die erfindungsgemäßen Drähte liegen insbesondere in folgenden Dimensionen vor: Die Wandstärken der Formgedächtnislegierung liegen im Bereich zwischen 1 μm und 100 μm, wobei der Bereich zwischen 5 μm und 50 μm bevorzugt ist. Die Außenabmessung liegt im Bereich zwischen 0,1 mm und 2 mm, wobei der Bereich zwischen 0,2 mm und 1 mm bevorzugt ist. Der Biegeelastizitätsmodul des Füllmaterials liegt im Bereich zwischen 100 kPa und 80 GPa, wobei der Bereich zwischen 100 MPa und 2 GPa besonders bevorzugt ist. Die Längen der herzustellenden Drähte liegen in der Größenordnung von mehreren Zentimetern, wobei sich die in der Kieferorthopädie gebräuchlichen Dimensionen von etwas 10 cm bis 20 cm problemlos mit dem vorgeschlagenen Verfahren fertigen lassen. Auch Drahtlängen der Größenordnung eines Meters sind denkbar. Der Länge insbesondere der ungefüllten Hohldrähte sind bei der Fertigung keine prinzipiellen Grenzen gesetzt.
Nachfolgend wird eine Ausführungsform der Erfindung anhand der Figuren 1 bis 3 näher erklärt. Es zeigen:
Figur 1 vier Stufen der Herstellung eines für einen orthodontischen Bogen geeigneten Komposit-Drahtes,
Figur 2 ein Schema einer Biegeprüfung und
Figur 3 Hysteresekurven eines Komposit-Drahtes und eines herkömmlichen Drahtes
Figur 1 zeigt in vier Stufen die Herstellung eines mit Polymer gefüllten Hohl- Drahtes, dessen Wandung aus Formgedächtnislegierung mit superelastischem Verhalten besteht. Generell erfolgt das Abscheiden der Legierung mittels der bekannten physikalischen Abscheidemethoden, vorzugsweise mit den bekannten Methoden des Sputterns oder des Kathodenzerstäubens. Zur Herstellung kristalliner Schichten wird entweder auf ein beheiztes Substrat bei mindestens 4500C abgeschieden oder es wird nach dem Sputtervorgang eine Lösungsglühung bei ca. 500-7000C durchgeführt.
Erfindungsgemäß wird ein Röhrchen mit kreisförmigem, rechteckigem oder ovalem Querschnitt mit Sputtertechnik folgendermaßen gefertigt: Zunächst wird als Substrat (Rohling) ein Drahtstück oder eine Kapillare 1 (Fig. 1a) aus Opfermaterial, beispielsweise eine kommerziell erhältliche Kupferkapillare, bereitgestellt. Diese wird in einem folgenden Schritt (Fig. 1 b) rundumbeschichtet. Zu diesem Zweck wird beispielsweise das zu besputterende Substrat 1 in Rotation versetzt (Pfeil A) und eine gerichtete Beschichtung durch Sputtern (Pfeile 2) durchgeführt. Auf dem Substrat 1 bleibt die FG-Legierung 3, hier aus NiTi, haften.
Im Anschluss (Fig. 1c) wird das rundumbeschichtete Opfersubstrat durch Einsatz eines selektiven Lösungsmittels 4 entfernt, das sich in einem Gefäß 5 befindet. Im Fall der NiTi-beschichteten Kupferelektrode wird 30%ige Salpetersäure eingesetzt. Zu erkennen ist, wie sich das Kupfer 6 auflöst.
Die Kristallisation der gesputterten Formgedächtnisschicht erfolgt vor oder im Anschluss an das selektive nasschemische Ätzen. Abschließend wird das
weiche Kernmaterial in den Hohldraht eingebracht. Dazu ist es beispielsweise möglich, einen Nylon- bzw. Perlonfaden 7 oder eine Verflechtung von mehreren Fäden mit einem Kleber zu bestreichen, diesen in den Hohldraht 3 einzuführen und dort trocknen zu lassen. Alternativ kann ein Zweikomponentenkleber, wie ein Epoxydharz oder ein anderer an Luft härtender Einkomponentenkleber, in den Hohldraht 3 eingefüllt werden (Fig. 1d).
Mit dem Verfahren wurden durch einen kontinuierlichen Ablagerungsprozesses von NiTi auf einer rotierenden Kupferkapillaren erfindungsgemäße Drähte geschaffen. Nach der Kristallisation und dem Herauslösen des Kupferkerns unter Einsatz von Salpetersäure war eine sich selbst tragende NiTi-Kapillare geschaffen worden, die mit Polyamiddraht gefüllt wurde. Dabei wurde der Elastizitätsmodul des weichkernigen Materials im Vergleich zum Elastizitätsmodul von NiTi als vernachlässigbar angesehen.
Das superelastische Kraftplateau eines erfindungsgemäßen Drahtes wird bei etwa 37° C mittels einer 3-Punkt-Biegeprüfung (Figur 2) mit mittiger Belastung und einem Auflageabstand von 10mm bestimmt. Das zu prüfende Drahtstück wird mittig bis zu 3,1 mm durchgebogen und die dafür notwendige Biegekraft bei Be- und Entlastung gemessen. Das Kraftplateau wird insbesondere dann als ausreichend therapeutisch wünschenswert und konstant angesehen, wenn bei der Entlastung die Änderung der Biegekraft im Bereich zwischen der Durchbiegung bei 2,0 mm und der Durchbiegung bei 1 ,0 mm nicht mehr als 20% der Biegekraft bei 2,0 mm beträgt und die Biegekraft bei 2,0 mm 5N nicht übersteigt.
Im linear elastischen Bereich der Biegekurve berechnet sich der Biegeelastizitätsmodul E nach der folgenden Gleichung, wobei F die Biegekraft [N], L der Auflageabstand [mm], I der Flächenträgheitsmoment [mm2] und δ die Durchbiegung [mm] ist.
E = 1/48 ■ [(F - L3) / (I - δ)]
In Figur 3 ist das Biegeverhalten (Hysterese) 8 eines Verbundes mit einem rechtwinkligen NiTi-Röhrchen vom Querschnitt 400 μm x 560 μm, das mit Nylon gefüllt ist, schematisch im Vergleich zur Hysterese 9 eines kieferorthopädischen
NiTi-Volldrahtes bei Körpertemperatur von 370C dargestellt. Aufgetragen sind die Durchbiegung in mm gegen die Biegekraft in N. Zu sehen sind die Belastungsäste 10 und das Verhalten beim Entlasten 11 gezeigt. Während im Fall der Hysterese 9 kaum ein sichtbares Plateau insbesondere im besonders interessanten Entlastungsast 11a zu erkennen ist, zeigt der Entlastungsast 11b ein ausgeprägtes konstantes Plateau 12.